Alessandro Urzì zündelt wieder

Alessandro Urzì (Fratelli d’Italia), der im Mehrpersonenwahlkreis Vicenza in Venetien in die Abgeordnetenkammer gewählt wurde, spricht auf Facebook von „obszönen“ Darstellungen, attackiert „separatistische“ Kreise und erklärt Hartung zum überführten Verantwortlichen des Anschlags von 1967 an der Porzescharte. Jede Sichtbarkeit dieser Person sei eine Beleidigung der getöteten italienischen Soldaten und eine Provokation gegenüber Italien. Urzì fordert sogar eine Art politische „Schutzzone“ entlang der Grenze, in der derartige Manifestationen unterbunden werden sollen – notfalls auf privatem Grund.
Damit stellt sich ein Politiker aus Rom nicht nur über die aktuelle Debatte am Brenner, sondern auch über jene Forschung, die sich seit Jahren intensiv mit dem Anschlag an der Porzescharte auseinandersetzt. Und er spricht in einer Selbstgewissheit, die viele Menschen in Südtirol zu Recht als herablassend empfinden.
Was 1967 an der Porzescharte geschah
Der Juni 1967 an der Porzescharte ist tragisch und unbestritten: In jenem Jahr kamen im Grenzgebiet vier italienische Soldaten durch Explosionen ums Leben, ein weiterer wurde schwer verletzt. Es war einer der blutigsten Vorfälle der Bombenjahre und ein schwerer Schlag für die damals ohnehin angespannten Beziehungen zwischen Rom und Wien. Italien erklärte den Fall zum gezielten Anschlag im Rahmen des Südtirolkonflikts und benannte rasch Schuldige.
In dieser offiziellen Erzählung spielen Peter Kienesberger, Erhard Hartung und Egon Kufner die zentrale Rolle. Sie wurden als Südtirolaktivisten zu den Tätern erklärt. Genau an dieser Version hält der italienische Staat bis heute fest – und genau auf sie stützt sich Urzì, wenn er Hartung nun als „verurteilten Attentäter“ vorführt. Dass diese Zuordnung in den vergangenen Jahrzehnten massiv ins Wanken geraten ist, spart er aus.
Zwei Staaten, zwei Geschichten
In Österreich ist der Fall keineswegs „abgenickt“ worden. In Wien kam es zum sogenannten vierten Porzescharte-Prozess, in dem Peter Kienesberger, Erhard Hartung und Egon Kufner im Dezember 1968 zunächst zu Haftstrafen verurteilt wurden. Es folgten zahlreiche Gutachten und Revisionsverfahren. Laut dem Militärhistoriker Hubert Speckner erwiesen sich die eingeholten Gutachten schließlich als entlastend; in dritter Instanz wurden die Angeklagten durch einen Akt des Bundespräsidenten („Abolition ohne Entschädigung“) begnadigt – ein Gnadenakt, der gerade nicht aus heiterem Himmel, sondern auf Basis dieser Unterlagen erfolgte.
Parallel dazu wurde in Florenz 1970 eine große Zahl von Angeklagten verurteilt – darunter Kienesberger und Hartung – in Abwesenheit zu lebenslanger Haft, Kufner zu 24 Jahren. Diese Urteile in Abwesenheit bilden bis heute die Grundlage der offiziellen italienischen Darstellung. Österreichische Parlamentsunterlagen sprechen ausdrücklich von einem „menschenrechtswidrigen Abwesenheits-Prozess“, in dem die Verurteilten keine Möglichkeit hatten, sich zu verteidigen oder Entlastungsbeweise und Zeugen vorzubringen.
Speckners Befund: Die offizielle Version trägt nicht
Spätestens hier kommt die Forschung ins Spiel. Der österreichische Militärhistoriker Hubert Speckner hat den Anschlag an der Porzescharte auf Grundlage von Akten, Gutachten, Kartenmaterial und Zeugenaussagen im Detail rekonstruiert. Seine Arbeiten gelten heute als die gründlichste Untersuchung dieses Ereignisses.
Speckner zeigt, dass die gängige italienische Version an zentralen Stellen nicht trägt. Die Zuordnung konkreter Todesfälle zum Schauplatz Porzescharte erweist sich als unsicher, Widersprüche in den offiziellen Berichten bleiben auch bei wohlwollender Lesart bestehen. Entscheidend ist jedoch: Die den drei genannten Aktivisten zugeschriebenen Handlungen lassen sich mit den bekannten Zeiten, Wegen und technischen Gegebenheiten nicht vereinbaren. Kurz gesagt: Der Ablauf, der Hartung, Kienesberger und Kufner zur Täterschaft machen soll, ist so nicht möglich gewesen.
Damit steht mehr als nur ein Detail in Frage. Wenn die plausibelste Rekonstruktion des Geschehens, die wir heute haben, zu dem Schluss kommt, dass diese Männer die ihnen zugeschriebenen Minenlegungen nicht ausgeführt haben konnten, dann kann man sie nicht weiterhin so behandeln, als wäre ihre Täterschaft unumstößlich bewiesen. Genau das tut Urzì aber – und erklärt jeden, der auf diese Forschung verweist, indirekt zum Störer der Totenruhe.
Zeit für Klartext – auch für die SVP
In Interviews präsentiert sich Alessandro Urzì letzthin gerne als moderater Gesprächspartner, als jemand, dem das friedliche Zusammenleben der Volksgruppen in Südtirol am Herzen liegt. Doch wer seine politischen Interventionen der letzten Jahre nüchtern betrachtet, erkennt ein anderes Muster: Er war, ist und wird ein Nationalist bleiben, dem es letztlich darum geht, die deutschen und ladinischen Südtiroler politisch zu marginalisieren und kulturell zu majorisieren. Der aktuelle Auftritt zur Porzescharte reiht sich nahtlos ein: historische Komplexität wird glattgebügelt, die Sensibilitäten der deutschen und ladinischen Bevölkerung werden übergangen, und am Ende steht wieder die Botschaft, dass Rom definiert, was in Südtirol gedacht und erinnert werden darf.
Gerade deshalb ist dieser Fall auch ein Weckruf an die Südtiroler Volkspartei. Wer in Bozen eine Koalition mit den Fratelli d’Italia trägt, kann nicht so tun, als ginge ihn die Sprache und Tonlage eines Alessandro Urzì nichts an. Eine Partei, die für sich in Anspruch nimmt, Sammelpartei der deutschen und ladinischen Volksgruppe zu sein, muss sich fragen, wie lange sie einem Partner die Hand reichen will, der in zentralen Fragen der Identität und Erinnerungspolitik offen zeigt, dass er genau diese Volksgruppen politisch klein halten möchte. Wenn die SVP glaubwürdig bleiben will, wird sie sich zu diesem Widerspruch äußern müssen.
Neueste Meldungen






