Florian Stumfall

29.03.2024

Zusehends fehlt der Disput

Sucht man nach den Wurzeln, aus denen die mehr als 300 Jahre anhaltende Sonderstellung des europäischen Geisteslebens erwachsen ist, so stößt man einerseits auf das Erbe der griechischen Antike. Doch während aus dieser Quelle überwiegend der inhaltliche Reichtum sprudelt, hat die entwickelte Systematik des Denkens ein zusätzliches Herkommen. Sie beruht auf der Tradition der Disputationen der scholastischen Philosophie im Hohen Mittelalter, die sich verbindet mit Thomas von Aquin und anderen großen Namen. Das Prinzip war: Rede und Gegenrede, Aussage und Widerspruch, Pro und Contra. Auf solchem Weg erfolgt die Wahrheitsfindung, und die Methode hatte Bestand über Jahrhunderte. Die akademischen Rigorosen unserer Tage sind der letzte Nachklang dieser Disputationen.

Als man sich bei Streitthemen noch gegenseitig zuhörte: Der Disput zwischen Martin Luther und dem Schweizer Reformator Ulrich Zwingli beim Marburger Religionsgespräch im Jahr 1529 über das Verständnis des Abendmahls (Bild: HESSISCHES LANDESMUSEUM DARMSTADT/WIKIMEDIA).

Damit allerdings hat die Sache ihr Ende gefunden. Gegenrede, Widerspruch und Contra haben nun im akademischen wie im politischen Leben ihr Daseinsrecht verloren. Auf die Rede dessen, der einen Widerspruch leistet, wird nicht mehr eingegangen, sondern es werden ihm unlautere Motive und ein schlechter Charakter unterschoben. An die Stelle des Wissens tritt die Überzeugung, und dass mit dem Wegfall von Disputationen, überhaupt von akademischen Streitgesprächen, ein Weg der Erkenntnis verbaut ist, stört die neuen geistigen Machthaber nicht. Denn sie suchen keineswegs nach der Wahrheit, sie sind davon überzeugt, sie schon lange zu besitzen.

Ãœberzeugung ersetzt Wissen

Dieser Verzicht auf eine Methodik des europäischen Geisteslebens zeitigt zahlreiche Beispiele, von denen ein sehr prominentes hier und jetzt in die Form der Disputation gekleidet werden soll. Zur Debatte steht die Aussage, das Kohlendioxid der Luft bilde in der Stratosphäre eine Schicht, die bewirke, dass die Wärmestrahlen, die auf die Erde treffen, gewissermaßen gefangen bleiben und so die Erwärmung des Klimas herbeiführten. Gut. Soweit die Position. Nun kommt die Negation. Dabei wird hervorgebracht, dass das Kohlendioxid keine Schicht in der Atmosphäre bilden könne, da es schwerer sei als der Stickstoff und sich deshalb in Bodennähe sammle, wo es nötig sei, um pflanzliches Leben zu ermöglichen. Dies also die Negation. Der Disput aber soll Erkenntnis darüber erbringen, wie es sich mit den physikalischen Bedingungen verhalte und was daraus abzuleiten sei. Eine klassische akademische Auseinandersetzung.
Doch der Disput findet nicht statt. Der Vorgang findet mit dem Setzen der Position ein Ende. Jeder Einwand ist untersagt bei Meidung empfindlicher Strafen wie gegebenenfalls des Verlustes des Arbeitsplatzes. Die Rationalität, das objektive Denken, die Sachlichkeit sind außer Kraft gesetzt. Die Wirklichkeit ist als Beweismittel verlorengegangen. Es ist indes kein Zufall, dass diese Entwicklung mit einem allgemeinen, auch wirtschaftlichen Niedergang Hand in Hand geht. Man kann zwar eine gewisse Zeit gegen die Tatsachen argumentieren und regieren, man darf aber davon keine Erfolge erhoffen.

Rede ohne Gegenrede, Aussage ohne Widerspruch, Pro ohne Contra

Wenn nun der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck sagt, man sei von der Wirklichkeit „umzingelt“, so spürt man das leichte Grauen, das ihm eine Größenordnung verursacht, mit welcher er nicht umgehen kann. Das nämlich ist ein Kennzeichen ideologischen Denkens, dass es die Welt wie sie ist, missachtet, und nur die Welt anerkennt, die es im konturenlosen Wirrwarr des Wunschdenkens ahnt und haben will.
Zwar bietet sich das Klima-Beispiel als überaus prominent an, um dieses Problem aufzuzeigen, es gibt aber deren mehrere, die ihren Widersinn noch besser offenbaren. Die prominente Tierschutzorganisation (nach Selbstauskunft) PETA verlangt, die hölzernen Karussellpferde abzuschaffen und – ebenfalls im Sinne des Tierwohls – Ausdrücke wie „ein Hühnchen rupfen“ zu meiden. Der Verzicht aufs Rationale wird so zum Prinzip. Oder aber eine Forderung, erhoben auf der Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen anno 2022: Man müsse Wladimir Putin international dadurch isolieren, dass man hierzulande die Häuser besser isoliere. Die Vertreter einer deutschen Regierungspartei bedenken derlei Aussagen mit Applaus. Aber man sollte eines nicht übersehen: Wer, wie diese Bundesregierung, der Bevölkerung Elektroautos in einer Zeit verordnen will, in der Deutschland immer mehr Strom im Ausland einkaufen muss, zeigt keineswegs mehr Rationalität als jene oder jede beliebige grüne Bundesversammlung.

Von der Wirklichkeit „umzingelt“

Der Verzicht auf die Rationalität aber – mehr noch: deren Bekämpfung – ist indes für die Ideologen nicht das einzige Mittel der Umgestaltung der Welt. Sie tun nämlich alles, um die prägenden Merkmale der traditionellen Gesellschaft abzuschaffen. Das begann mit der Marginalisierung der Religion und dem Versuch, sie durch Ethik zu ersetzen. Übersehen wird dabei, dass Ethik an sich einer Begründung bedarf, die sie erklärt und rechtfertigt, und das eben ist die Religion. Die beiden verbindet kein alternatives, sondern ein kausales Verhältnis.
Daraus folgend hat nicht nur in Deutschland das Recht Schaden genommen. Das begann mit rückwirkenden Gesetzen schon zu Angela Merkels Zeiten, fand einen ersten Höhepunkt bei ihrem einsamen Atomausstieg ohne Befragung des Parlaments und ohne Berücksichtigung bestehender Verträge und Gesetze und führt zu einem Beispiel in jüngster Zeit aus Mecklenburg-Vorpommern. Dort war eine 16-jährige Schülerin von ihrem Direktor angezeigt worden, offenbar wegen der Verwendung des Wortes Heimat im Zusammenhang mit Deutschland. Die Polizei rückte an, holte die Schülerin aus dem Klassenzimmer und verhörte sie. Der Direktor erklärte anschließend, er sei zur Anzeige verpflichtet gewesen, der zuständige Innenminister Christian Pegel (SPD), das Verhalten der Beamten sei angemessen und normal gewesen.
Nun kann man anderer Leute Ethos, Recht, Tradition, Sitten und Überzeugungen mit dem nötigen Druck und ausreichend Gehirnwäsche durch die jeweils eigenen ersetzen. Doch die Rationalität hat nicht ihresgleichen, es gibt sie nicht zweimal. Wer sie abschafft, sieht sich daher genötigt, anderen Ersatz zu bringen. Er tut das mit vielen Emotionen, einem rücksichtslosen Moralismus und durch das Verbreiten von Angst.

Kolumne von Dr. Florian Stumfall
Erstveröffentlichung PAZ (redaktion@preussische-allgemeine.de)

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