Michael Demanega
Italienische Reflexionen: Nähe und Distanz
Der italienische Nationalismus ist faktisch eine „interessante“ Angelegenheit, umfasst Ausprägungen von links bis rechts, beansprucht für sich – ob rechtmäßig oder nicht – „heilige Grenzen des Vaterlandes“, die man mit umgekehrten Vorzeichen als „Pangermanismus“ bezeichnen würde. So hart ist man in der Beurteilung mit Italien aber grundsätzlich nicht. Vielleicht nimmt man die italienischen Empfindlichkeiten im internationalen Kontext auch nicht immer allzu ernst.
Italien ist für die Deutschen das Land der Sehnsucht. Zu Zeiten des fallenden Roms, als die Völkerwanderung einsetzte. In der Nibelungensage mit Dietrich von Bern, in der sich Bern auf Verona bezieht. Im Zuge der Kaiserkrönung der deutschen Könige in Rom. Anlässlich der Höhepunkte deutschen Geisteslebens, die mit der Renaissance ihren Anfang nehmen und in der Romantik einen Höhepunkt finden.
Italien wurde dabei für die Gelehrten aus dem Norden als „eine Metapher der Welt und des Lebens“ aufgefasst, „als das Szenarium, in dem man sich selbst entdeckt“ schreibt die Literaturwissenschaftlerin Paola Maria Filippi und spricht von einer „Initationsreise“ der Selbsterforschung und Wesenssteigerung, wobei die Reise in die Welt des Südens als „Ziel einer Reise nach Ordnung, nach reiner klassischer Form, die befreit von nordischen Nebeln, einer Reise auf der Suche nach künstlerischer und moralischer Klarheit, nach Gemessenheit und Harmonie“ war [1].
Der Literaturhistoriker Dieter Richter sagt zum Mythos „Süden“: „Der Süden ist beides – eine geografische Richtung, auf der Landkarte unten, und eine Idee, ein Ort der Sehnsucht, des Traums, aber auch der lauernden Enttäuschung. Die Elemente dieser Traumlandschaft haben viel mit europäischer Kulturgeschichte zu tun“ [2].
Für Südtirol ist Italien das Land der unfreiwilligen Zugehörigkeit. Infolgedessen ist das Verhältnis politisch zwangsläufig angespannt. Immer dann, wenn Nation und Staat nicht übereinstimmen, ergeben sich die vielfältigen Probleme einer unfreiwilligen Solidarität, eines Zentralismus und einer Fremdbestimmung. Das liegt in der Natur der Sache selbst, insbesondere aber auch am italienischen Wesen und am italienischen Nationalismus, der alle politischen Lager, von links nach rechts, umfasst. Dieser Umstand verstärkt sich angesichts des Umstandes, dass eine Minderheit von 300.000 einem Staatsvolk von knapp 60 Millionen gegenübersteht, weshalb kein integratives Zusammengehörigkeitsgefühl möglich ist.
Doch selbst dann, wenn Südtirol eben nicht zu Italien gehören würde, verlangen die geographische Nähe sowie die vielfachen Beziehungen zu Italien eine tieferreichende Auseinandersetzung mit Italien. Das muss auch in Richtung all jener gesagt werden, die derzeit in provinzieller Hinterhältigkeit so tun, als könnten sie nichts mit Italien zu tun haben. Natürlich kann man jede Beziehung kapern, doch dann zieht man sich aus der Welt zurück, schlittert ins Infantile ab und verliert jeden Einfluss über seine unmittelbare Umgebung. Das Politische ist ja gerade eine Positionierung zur Welt, zu den eigenen, aber auch – und vor allem – zu den anderen.
Es gehört zur Größe, auch zur politischen Größe, außenpolitische Beziehungen zu pflegen, sich selbst in einen Bezug zur Welt zu stellen, gemeinsame Interessen abzustecken, Differenzen zu markieren. Dazu gehört auch und vor allem eine Auseinandersetzung mit Italien. Vielleicht nicht in erster Linie, vielleicht ist die Beziehung zu Österreich, zu Deutschland und zur Schweiz doch eine unmittelbarere, aber gleich danach kommen die italienischen Reflexionen, auch und vor allem, weil Italien für das deutsche Geistesleben immer Ort der Sehnsucht und Ort der Reflexion war.
Die Größe der Gedanken beweist sich im großen Denken. Europa entstammt als Idee – abseits der religiösen Einflüsse – dem griechischen Streben nach Weisheit und Vernunft, dem römischen Streben nach Staatlichkeit und Sittlichkeit, aber auch dem germanischen Streben nach Naturversöhnung. Das Streben nach Schönheit und Ästhetik, basierend auf diesem klassischen Kanon, durchzieht die Kunst und Geistesgeschichte bis hinauf ins 20. Jahrhundert, das eine Sache für sich bleibt. Das gilt natürlich auch für Südtirol, das mehr ist als das Land der sieben Berge, sondern insbesondere im Austausch, in Relation und Beziehung groß wurde. Insbesondere dank seiner geostrategischen Lage.
Südtirol muss in allen nur denkbaren Szenarien mehr oder weniger ausgeprägte politische Beziehungen zu Italien halten, alleine aus geographischen Gründen. Ob im Sinne eines Ausbaus einer weiterreichenden Autonomie im italienischen Staatsverband, aber auch und vor allem im Sinne einer mehr oder weniger ausgeprägten staatlichen Unabhängigkeit, in welcher Südtirol immer die Funktion eines Übergangs zwischen Norden und Süden hat, eine strategische Vermittlerrolle zwischen politischen Mächten, Kulturkreisen und Wirtschaftszentren einnehmen kann und infolgedessen ähnlich wie die Schweiz seine eigenen Stärken ausspielen muss. Provinzielle Weltflucht ist hingegen nie eine Option.
Bezug zur Wirklichkeit halten, bedeutet, anerkennen, dass Nationalstaaten derzeit und für die kommenden Jahrhunderte wesentlichen politischen Einfluss haben und dass die abstrakte Realitätsflucht in postnationalstaatliche Konstrukte erstens utopisch und zweitens im Sinne von Postpolitik destruktiv wäre.
Beziehungen halten bedeutet , sich im Sinne des Notwendigen abzugrenzen, seine eigene Position abstecken, aber auch verstehen, nachvollziehen und entsprechend – mit Wissensvorsprung – handeln.
Literatur:
[1] Manfred Müller, Luigi Reitani (Hg.): „Von der Kulturlandschaft zum Ort des kritischen Selbstbewusstseins – Italien in der österreichischen Literatur“, LIT-Verlag, Wien / Berlin 2011
[2] Dieter Richter: „Die Utopie des reinen Glückes“, Brand eins 08/2018