Ein Blog von
Roland Lang
Ein treuer Sohn der Heimat hat uns verlassen
Uns erreicht die Kunde, dass Helmut Kritzinger, ein Mann der ersten Stunde im Südtiroler Freiheitskampf der 1960er Jahre in seinem Heimatort Sarnthein im Alter von 95 Jahren verstorben ist (UT24 berichtete).
Wir werden das ehrende Gedenken an ihn stets hochhalten und dürfen unseren Mitbürgern und Freunden kurz das Leben dieses außerordentlichen Patrioten schildern:
Aus Kritzingers Lebenslauf
Er hatte geholfen, den Widerstand vorzubereiten
Der am 15. August 1928 in Sarnthein in Südtirol geborene Helmut Kritzinger war Lehrer und Journalist, Obmann der Südtiroler Volkspartei (SVP) im Sarntal und Mitglied des SVP-Parteiausschusses sowie Gemeinderat in Sarnthein. Als solcher protestierte er gegen die Errichtung von Wohnhäusern für italienische Zuwanderer. Die Carabinieri hatten ihn deshalb im Blickfeld.
Helmut-Kritzinger und Erika Lechthaler bei ihrer Hochzeit am 27. August 1960 – Bild: Südtiroler Heimatbund (SHB)
Kritzinger war mit den späteren Freiheitskämpfern Jörg Pircher aus Lana und Luis Amplatz aus Bozen eng befreundet und „sammelte in ganz Südtirol Adressen von Personen, die zu einem Widerstand gegen die italienische Politik bereit waren“, wie er später selbst berichtete.
(Helmut Kritzinger: „Die Freiheit nicht haben … Sorgen“, in: Sepp Mitterhofer und Günther Obwegs: „…Es blieb kein anderer Weg“, Auer/Südtirol 2000, S. 103)
Im Frühjahr 1961 gab es bereits vereinzelte Anschläge in Südtirol. So wurde im Februar in Waidbruck ein dort noch immer stehendes Mussolini-Denkmal gesprengt.
Die Verhaftung
Als in Sarnthein ein Knallkörper in der Nähe der Zuwanderer-Häuser explodierte, wurde er am 7. April 1961 von den Carabinieri verhaftet und der Täterschaft beschuldigt. Dafür fanden sich keine Beweise, jedoch fiel den Carabinieri bei der Hausdurchsuchung ein noch nicht abgesandter Brief in die Hände, welcher an die Südtirol-Referentin im Amt der Nordtiroler Landesregierung, Dr. Viktoria Stadlmayer, gerichtet war. Darin hatte Kritzinger geschrieben, man solle „Zwischenfälle produzieren“.
Bei den Carabinieri herrschte Jubel. Endlich hatte man einen politischen Hintermann gefasst. Kritzinger beteuerte jedoch in seinen Verhören, dass er mit seinen Zeilen lediglich Aktionen des zivilen Widerstandes gemeint habe, wie etwa das Bestehen auf den Gebrauch der deutschen Sprache in den Ämtern. Das half ihm zunächst wenig. Er saß in Untersuchungshaft, während seine Frau ein Kind erwartete.
Er sah die frischen Folterspuren
Er befand sich in den Gefängnissen von Bozen und Trient in Untersuchungshaft. Dorthin wurden nach der „Feuernacht“ auch die verhafteten und von den Carabinieri gefolterten Landsleute eingeliefert. Kritzinger sah anhand der Folterspuren mit eigenen Augen und erfuhr zu seinem großen Entsetzen, wie schwer die politisch weniger prominenten Mitgefangenen von den Carabinieri gequält worden waren.
Bozner Gefängnis: Hinter diesen Mauern befand sich auch der spätere österreichische Bundesratspräsident Kritzinger in Haft – Bild: Südtiroler Heimatbund (SHB)
Die Flucht
Mangels an Beweisen musste Kritzinger nach acht Monaten Haft am 25. November 1961 in „provisorische Freiheit“ entlassen werden. Im Sommer 1962 drohte eine neuerliche Verhaftung und Kritzinger tauchte in den Untergrund ab. Er lebte versteckt und dann auf der Flucht, bis er über die „grüne Grenze“ nach Nordtirol gelangte.
Noch in Österreich lebte er eine Zeit lang untergetaucht und er hatte sein Aussehen verändert, damit ihn italienische Spitzel in Innsbruck nicht erkennen konnten.
Er meldete sich am 12. September 1962 bei der Leiterin der Südtirolabteilung der Nordtiroler Landesregierung, Frau Dr. Viktoria Stadlmayer, die zusammen mit Landeshauptmann Eduard Wallnöfer dem Flüchtling hilfreich unter die Arme griff.
Neue Aufgaben
Zunächst erhielt Kritzinger einen Arbeitsplatz bei dem ÖVP-Organ Tiroler Nachrichten, dann betraute ihn Landeshauptmann Wallnöfer mit der Aufgabe, den damals danieder liegenden Tiroler Pensionistenbund (dem heutigen ÖVP-Seniorenbund) neu zu organisieren und aufzubauen.
Der Kronzeuge berichtete: „Wie Südtiroler von den Karabinieri gefoltert wurden“
Was er in den Kerkern von Bozen und Trient gehört und gesehen hatte, ließ Kritzinger keine Ruhe. Er musste etwas gegen die Folterungen in Südtirol tun. Bereits am 5. Dezember 1962 verfasste Helmut Kritzinger für das Amt der Tiroler Landesregierung einen erschütternden Bericht unter dem Titel „Wie Südtiroler von den Karabinieri gefoltert wurden“, wohl in der Annahme, dass die österreichische Politik nun gegen das unfassbare Geschehen in den Carabinierikasernen tätig werden würde. In Kritzingers Bericht heißt es einleitend:
Bild: Südtiroler Heimatbund (SHB)
Kritzingers umfangreiche Folterdokumentation gibt sodann im Detail und unter Nennung aller Namen der Gefolterten und der Folterknechte die schweren Misshandlungen und deren Folgen wieder. Über den Tod des schwer gefolterten Franz Höfler beispielsweise berichtet er:
Auszug aus Kritzingers Bericht und der gefolterte Höfler in der Totenkammer – Bilder: Südtiroler Heimatbund (SHB)
Über die Misshandlung der Gebrüder Thaler berichtete er:
Der Schluss des Berichtes von Helmut Kritzinger „Wie Südtiroler von den Carabinieri gefoltert wurden“; Südtirolakten des Referates „S“ der Nordtiroler Landesregierung, Häftlingsakt 3/2, Tiroler Landesarchiv Innsbruck – Bild: Südtiroler Heimatbund (SHB)
Die Dokumentation wurde unterschlagen
Leider führte Kritzingers Folterbericht zu keinem öffentlichen Aufschrei der Empörung. Auf ausdrücklichen Wunsch des Südtiroler Landeshauptmannes Magnago blieben zum Leidwesen Kritzingers dieser Bericht ebenso wie zahlreiche andere aus Südtiroler Gefängnissen geschmuggelte Folterberichte unter politischem Verschluss. Das Gesprächsklima zwischen Magnago und der italienischen Regierung sollte nicht belastet werden. Außenminister Dr. Bruno Kreisky (SPÖ) setzte die Dokumente in den Verhandlungen mit Italien dann als Druckmittel ein. Aber auch er gab sie nicht zur Veröffentlichung frei.
Politische Karriere und hohe Ehrungen
Als Landesobmann des Tiroler Pensionistenbundes machte Kritzinger politische Karriere, wurde Innsbrucker Gemeinderat, dann Bundesrat und schließlich Präsident des Österreichischen Bundesrates. Damit hatte er das dritthöchste politische Amt im Staate erreicht.
1975 erhielt Kritzinger das Verdienstkreuz des Landes Tirol, 1981 das Goldene Ehrenzeichen und 2009 das Große Ehrenzeichen der Republik Österreich verliehen.
In Stellvertretung des österreichischen Bundespräsidenten überreichte der Nordtiroler Landeshauptmann die hohe Auszeichnung.
„Die heute ausgezeichneten Persönlichkeiten sind Vorbilder unserer Gesellschaft, sie tragen in hohem Maße Verantwortung im Rahmen ihrer Tätigkeiten und leisten darüber hinaus weit mehr als man von ihnen erwarten und verlangen kann. Ihnen allen möchte ich heute – im Namen des Landes Tirol – sehr herzlich für ihr vorbildhaftes Wirken und Engagement danken“, betonte LH Platter bei seiner Ansprache.
Bundesratspräsident Helmut Kritzinger (links) und der Nordtiroler Landeshauptmann Van Staa (Mitte) empfingen im März 2008 Italiens Staatspräsidenten Napolitano in der Hofburg in Wien. Bei dieser Gelegenheit brachte Kritzinger bei Napolitano vergeblich die Bitte um die Begnadigung der letzten noch im Zwangsexil lebenden Südtiroler Freiheitskämpfer vor. – Bild: Südtiroler Heimatbund (SHB)
Erst 46 Jahre später konnte Kritzinger die Veröffentlichung seines erschütternden Berichtes erleben
Erst mehr als 46 Jahre nach Abfassung seines Berichtes konnte der Bundesratspräsident a. D. die Veröffentlichung seines Folterberichtes erleben, als im Mai 2009 das Buch von Helmut Golowitsch „Für die Heimat kein Opfer zu schwer“ der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Helmut Golowitsch: „Für die Heimat kein Opfer zu schwer“, Edition Südtiroler Zeitgeschichte, 2. Auflage 2012 ISBN 978-3-941682-00-9 – Bild: Südtiroler Heimatbund (SHB)
In dieser Dokumentation sind alle damals verheimlichten Folterberichte im Originalwortlaut und zum Teil als Faksimili veröffentlicht. Darunter befindet sich auch der sechs Seiten umfassende Bericht Kritzingers.
Dieser kann beim „Südtiroler Heimatbund“ (SHB) angefordert werden und wird als pdf-Dokument zugesandt:
info@suedtiroler-freiheitskampf.net