Weihnachten: Zwischen Besinnlichkeit und Überforderung

Im Berufs- aber auch Privatleben hört man kaum mehr auf, erreichbar zu sein: E‑Mails, soziale Netzwerke und Smartphone-Benachrichtigungen begleiten Menschen auch an Feiertagen. In einem Südtiroler Bericht einer Selbsthilfegruppe heißt es: „Informationsflut, ständige Erreichbarkeit, Termindruck, Überforderung lassen die Balance zwischen Anspannung und Entspannung verloren gehen“. Viele fühlen sich daher wie auf Abruf, auch an Weihnachten. Laut den Berichten ist das Erholungsgefühl gestört, wenn der Kopf nie zur Ruhe kommt und man ständig plant und organisiert. Zudem werden die sozialen Medien als Belastung wahrgenommen: Idealisierte Bilder von perfekten Weihnachtsfeiern verstärken das Gefühl, mithalten zu müssen.
Überzogene Erwartungen und Perfektionsdruck
Auch anhaltende Erwartungshaltungen tragen zu Spannungen bei. Psychotherapeut Dr. Elmar Teutsch aus Bozen erläutert, dass in der Vorweihnachtszeit oft „völlig überzogene Erwartungen, wie Weihnachten denn sein solle“ herrschen. Man stelle sich ein ideales Bild mit „funkelnden Kinderaugen, flackernden Kerzen, freudiger Christbaum-Stimmung, rundum Harmonie und Glück“ vor. Bleiben diese Vorstellungen unerfüllt, führt dies zu Enttäuschung und Stress. Ähnlich sieht es Familienberater Stefan Eikemann: Er betont, dass Perfektionismus eine große Rolle spielt. „Wir haben alle große Erwartungen an Weihnachten und konkrete Vorstellungen, wie dieses Fest auszusehen hat“, sagt Eikemann und das Gefühl, allen gerecht werden zu müssen, setzt viele unter Druck.Â
Neben den eigenen Ansprüchen prägen oft auch unbewusste „Man-sollte-Programme“ das Fest: Viele glauben, sie müssten an Heiligabend eine letzte Streitlast aus 365 Tagen begleichen oder allen Verwandten etwas Recht machen. Dieser Druck kann Familienkonflikte entzünden. Caritas-Psychologin Brigitte Hofmann weist darauf hin, dass Weihnachten „eine Zeit voller Gefühle und hoher Erwartungen“ ist und viele Menschen sich gerade jetzt einsam oder ungeliebt fühlen, „besonders an den Feiertagen“ . In der Folge wenden sich viele Hilfesuchende in der Weihnachtszeit an Beratungsstellen.
Konsum- und Leistungsdruck
Neben emotionalen Konflikten spielt auch materieller Druck eine Rolle. Die Verlockung, alles perfekt zu gestalten, führt zu großem Aufwand und Ausgaben. Der Geschenkekauf, das prächtige Festessen und die Dekoration können schnell zur Pflichtübung werden. Der Südtiroler Psychologe Teutsch warnt davor, dass wenn aus dem Schenken ein Zwang wird, dann sei es „kein Geschenk, sondern Unterpfand, Lösegeld, Deckmantel“. Viele Südtiroler spüren zudem die wirtschaftlichen Zwänge: In Zeiten hoher Preise müssen die Weihnachtsbudgets genauer geplant werden. Eikemann berichtet, dass nicht zuletzt die teurere Lebenshaltung das Fest zusätzlich belastet: „Es ist sicher nicht einfacher geworden, wir sprechen hier von einem Stress, den schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung mittlerweile hat“. Wer sparen muss, empfindet Druck bei Festmahl und Geschenken zurückzustecken, ein stressiger Spagat zwischen Freude und Kalkül.
Familiäre Rollen und Konflikte
In vielen Familien führt der Weihnachtsmarathon zu Rollenstress. Vor allem Mütter beklagen sich über die Mehrfachbelastung: In den meisten Haushalten planen sie Plätzchen und Geschenke, schmücken Haus und Baum und halten gleichzeitig Haushalt und Arbeit am Laufen. Familienberater Eikemann erklärt: „Die Mütter kümmern sich um die Kekse, meist um die Weihnachtsgeschenke, die Dekoration… Sie fühlen sich verantwortlich dafür, dass es ein Weihnachten wird, wo all das passt, was Familie an Weihnachten ausmacht“ . Diese Belastung nehme immer mehr zu. „Die Doppelbelastung steigt definitiv, nicht nur für Mütter, sondern auch für Väter, aber sicher vor allem für Mütter“, so Eikemann. Er beobachtet, dass insbesondere bei Eltern der innere Druck in der Adventszeit „ganz sicher größer geworden“ ist .
Dieser Druck kann in familiären Spannungen münden. Eikemann berichtet, dass Familienstreitigkeiten häufig erst an den Feiertagen oder kurz danach eskalieren: Zwar melden sich Menschen mit Problemen nicht unbedingt schon in der Adventszeit bei Beratungsstellen, aber nach Weihnachten häufen sich Anfragen zu Erziehungs- und Paarproblemen. Konflikte aus dem Alltag stauen sich auf und der Versuch, das Fest harmonisch zu gestalten, entlädt viele Konflikte. In vielen Familien sei Weihnachten „wie eine Prüfungssituation mit einer Deadline am 24.“
Einsamkeit trotz Festlichkeit
Ironischerweise können gerade inmitten der Feiertagsfülle Einsamkeit und Ausgrenzung auffallen. Menschen ohne Familie oder mit entfernten Freunden fühlen sich nun oft besonders isoliert. Der Psychiater Roger Pycha aus Brixen berichtet, dass an Weihnachten die Anrufe bei Seelsorge- und Krisentelefonen um bis zu 30 Prozent steigen, weil die „Verlassenheit“ zum vorrangigen Thema wird. Auch in der Caritas-Telefonseelsorge zählt man täglich rund 30 Anrufe von Menschen, „die sich verlassen fühlen oder vor schwierigen Entscheidungen stehen“. Organisationen wie der Verein „Lichtung“ in Bruneck und lokale Selbsthilfegruppen reagieren darauf mit speziellen Weihnachtsfeiern für Alleinstehende. Dies sei ein Hinweis darauf, dass vielen Südtirolern gerade das Gemeinschaftsgefühl fehle.
Experten raten: Erwartungen zurückschrauben und reden
Psychologen und Berater betonen, dass man das Fest realistischer gestalten sollte. Eikemann empfiehlt, „im Dezember nicht zu viel vorzunehmen“ und „die eigenen Erwartungen etwas zurückzuschrauben“. Statt sich von inneren Soll-Ideen stressen zu lassen, solle man mit der Familie offen über Vorstellungen sprechen und gemeinsame Prioritäten setzen. Ähnlich formuliert Psychotherapeut Teutsch: Man solle sich von den „gemeinen Folterknechten“ verabschieden, die einem einflüstern, man müsse irgendetwas ganz anders machen. Er rät, den Fokus auf wenige, wirklich bedeutende Aktivitäten zu legen (z. B. gemeinsames Essen oder Spaziergang) und alles andere zu streichen. Wenn dennoch Probleme auftreten, gibt Teutsch einen einfachen Rat: „Keine. Denn das Wichtigste sind nicht die guten Ratschläge, sondern einfach das Gespräch“ .






