von Alexander Wurzer 14.08.2025 07:00 Uhr

„Politik muss wieder Orientierung geben – gerade bei der Familie“

Meinungsforscher Hermann Binkert im UT24-Interview über sein neues Buch, den Niedergang der Volksparteien, den Umgang mit der AfD, die Rolle der Migration – und warum die Stärkung der Familie für ihn der Schlüssel zur Zukunft ist.

Hermann Binkert in Kaltern während des Interviews mit UT24 (Foto: UT24/aw)

Hermann Binkert (60) ist Gründer und Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts INSA (Institut für neue soziale Antworten). Der Jurist und ehemalige CDU-Politiker, der 2008/09 als Thüringer Staatssekretär diente, hat seit 2009 mit INSA zahlreiche Umfragen zur politischen Stimmung in Deutschland durchgeführt. Bekannt wurde INSA vor allem durch den wöchentlichen INSA-Meinungstrend in BILD, der regelmäßig die sogenannte Sonntagsfrage („Wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre…“) veröffentlicht. Binkert, römisch-katholisch, verheiratet und vierfacher Familienvater, beobachtet die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland seit vielen Jahren und legt nun seine Erkenntnisse in Buchform vor.

Kürzlich ist sein neues Buch „Wie Deutschland tickt – Ein Meinungsforscher packt aus“ erschienen. Darin gewährt Binkert Einblicke in die Methoden der Demoskopie und präsentiert überraschende Umfrageergebnisse über die Werte und Einstellungen der Deutschen. So zeigt er beispielsweise, dass eine Mehrheit der Deutschen „soziale Gerechtigkeit“ wichtiger findet als wirtschaftliche Freiheit – ein Befund, der viele erstaunen dürfte. Ebenso beleuchtet er, wie unterschiedlich verschiedene Wählergruppen Themen priorisieren: Für Anhänger der AfD steht etwa das Thema Migration ganz oben auf der Agenda, während Grünen-Wähler den Klimaschutz höher gewichten. UT24 traf den Meinungsforscher, der nicht nur in Südtirol Umfragen durchführt, sondern oft auch hier arbeitet, zum Interview, um über die Krise der etablierten Parteien, den Aufstieg der AfD, die Bedeutung von Migration sowie über Binkerts neue Buch-Erkenntnisse zu sprechen.

  • Hermann Binkerts neues Buch: Wie Deutschland tickt - Ein Meinungsforscher packt aus

Herr Binkert, Sie beschäftigen sich täglich mit der Stimmung im Land. Die etablierten Volksparteien schneiden derzeit in Umfragen so schlecht ab wie selten zuvor – die SPD liegt aktuell bei nur rund 14,5 Prozent, und auch die Union kommt nicht annähernd an frühere Werte heran. Was sind aus Ihrer Sicht die ausschlaggebenden Gründe dafür, dass die traditionellen Regierungsparteien in Deutschland an Rückhalt verlieren?

Ich würde zunächst schon einmal bezweifeln, ob die SPD wirklich noch eine Volkspartei ist. Mit 14,5 bis 15 Prozent ist man eigentlich keine Volkspartei mehr. Die drei Regierungsparteien CDU, CSU und SPD sind schwächer, als sie bei der Bundestagswahl waren.

Die Oppositionsparteien AfD und Linke sind stärker als bei der Bundestagswahl. Das liegt daran, dass die ohnehin geringen Erwartungen an die neue Bundesregierung noch unterboten wurden. Man hat Wahlversprechen nicht eingehalten, etwa die Schuldenbremse einzuhalten oder die Stromsteuer zu senken. Selbst grundlegende Aufgaben – wie die Wahl von Richtern ans Bundesverfassungsgericht – wurden nicht erfüllt. Das wird meines Erachtens auch langfristig negative Wirkung haben.

In der politischen Debatte hört man oft von der „Brandmauer“ gegenüber der AfD – die anderen Parteien grenzen die AfD weitgehend aus und schließen jede Kooperation kategorisch aus. Sie haben kürzlich festgestellt, dass es für die Bürger diese Brandmauer längst nicht mehr gibt. Ist die konsequente Ausgrenzung der AfD Ihrer Meinung nach kontraproduktiv?

Die AfD gibt es seit zwölf Jahren. Wenn es nicht gelingt, eine Partei aus dem Diskurs zu drängen, weil sie immer stärker wird, muss man einen Strategiewechsel vornehmen.

Bei anderen jungen Parteien wie der ÖDP oder den Republikanern hat es funktioniert, sie als „Wiedergänger Hitlers“ oder „fünfte Kolonne Moskaus“ zu diffamieren – bei der AfD nicht. Sie ist in Ostdeutschland in den meisten Ländern bereits stärkste Kraft, in Sachsen-Anhalt zweitstärkste, und auch in Westdeutschland in Ländern wie Bayern, Baden-Württemberg und Hessen auf Platz zwei hinter der Union.

Man müsste die Partei ernst nehmen, statt über Verbotsdiskussionen oder den Verfassungsschutz zu versuchen, ihr beizukommen. Die politische Auseinandersetzung ist notwendig. Die Bürger wollen bei Wahlen eine echte Auswahl.

Die Brandmauer gibt es für die Mehrheit der Bürger nicht – und sie sollte auch im politischen Geschäft keine Rolle mehr spielen. Vom zusätzlich möglichen Potenzial der Union kommen jeweils bis zu einem Drittel von AfD und SPD. Die Union kann also ähnlich viele Wähler von der SPD wie von der AfD gewinnen.

Die AfD befindet sich in den Umfragen im Höhenflug. Bundesweit kommt sie derzeit auf etwa 25 Prozent und liegt damit nahezu gleichauf mit der Union. Sie selbst haben gesagt, die AfD habe das Potenzial, stärkste Kraft zu werden. Hat sie wirklich das Zeug, mit Abstand auf Platz eins zu landen?

Wir messen nur, was die Bürger an Einstellungen haben. Es geht nicht darum, was ein Befrager denkt, sondern was die Befragten sagen. Aktuell sagen rund ein Viertel der Deutschen, dass sie die AfD bei einer möglichen Bundestagswahl wählen würden.

Wir fragen aber auch, welche anderen Parteien sich die Befragten vorstellen könnten zu wählen. Bei der AfD sagen sieben bis acht Prozent, dass sie aktuell zwar eine andere Partei wählen, sich die AfD aber grundsätzlich vorstellen können. Zählt man das dazu, liegt das Potenzial der AfD bei rund einem Drittel. Etwa die Hälfte dieses Potenzials käme von der Union, an zweiter Stelle vom BSW.

Ein Faktor ist die Migrationspolitik. Ihre Umfragen zeigen, dass die Begrenzung der Zuwanderung für viele Menschen das wichtigste Thema ist – Ende Juli 2024 nannten 32 Prozent Migration als Top-Thema, deutlich vor Frieden oder sozialer Gerechtigkeit. Deutschland erlebte zudem seit 2015 mehrere islamistische Anschläge. Wie sehr prägt das die politische Landschaft?

Ohne die Grenzöffnung von Frau Merkel 2015 und den millionenfachen Zuzug von Migranten hätte die AfD es nicht geschafft, wieder sichtbar zu werden. Im Sommer 2015 lag sie in den Umfragen bei etwa drei Prozent – die Flüchtlingspolitik hat ihr neues Leben eingehaucht.

Statistiken, die heute Rückgänge bei Asylbewerbern oder verstärkte Grenzkontrollen zeigen, sind gut. Entscheidend ist aber, ob die Bürger es auch im Alltag spüren, dass illegale Migration zurückgeht. Wenn gleichzeitig Anschläge, Gewalt- oder Sexualdelikte passieren, helfen politische Beschwichtigungen wenig. Die Migrationswende muss spürbar sein, nicht nur rhetorisch.

Blicken wir nach Südtirol: Hier vor Ort ist zu beobachten, dass die Unzufriedenheit mit der seit Jahrzehnten dominierenden Südtiroler Volkspartei (SVP) größer wird. Bei der Landtagswahl 2023 ist die SVP auf nur noch 34,5 Prozent abgestürzt (nach 41,9 Prozent im Jahr 2018). Sehen Sie Parallelen zur Situation in Deutschland?

Es gibt kein Naturgesetz, dass Volksparteien an Bindungskraft verlieren müssen. Wichtig ist, dass Volksparteien eine inhaltliche Breite aufweisen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Wenn eine Volkspartei nur einen Flügel bedient, verliert sie Bindungskraft.

Das war bei der Union ähnlich wie jetzt bei der SVP. Zu Zeiten von Helmut Kohl hatte die CDU sowohl eine Rita Süssmuth als auch einen Alfred Dregger. Diese Breite ist entscheidend für die Akzeptanz in der Bevölkerung.

Ich würde nicht den Abgesang auf die Volksparteien singen, aber empfehlen, diese Breite wiederherzustellen. Sonst suchen sich Wähler Alternativen – und das ist die Stärke der repräsentativen Demokratie.

Welche Volkspartei erfüllt in Europa derzeit am besten dieses Anforderungsprofil?

Die CDU hätte das Potenzial, dieses Angebot wieder zu erfüllen. Ebenso wie die spanische Volkspartei Partido Popular  könnte sie auf ordentliche Ergebnisse kommen. Entscheidend ist aber die Fähigkeit, die frühere Breite wieder aufzubauen.

Wer in der CDU könnte denn den Part von Alfred Dregger übernehmen – also glaubwürdig, mit Strahlkraft und Charme für die Massen?

Es ist schwierig, von heute auf morgen Persönlichkeiten hervorzubringen, die die Massen ansprechen. Aber mit Carsten Linnemann als Generalsekretär hat die Union jemanden, der mit großer Glaubwürdigkeit seinen Kurs fährt und bei dem sich so etwas entwickeln kann. Die CDU heute ist nicht mehr identisch mit der Merkel-CDU, aber auch nicht mehr wie unter Helmut Kohl.

Ihr Buch enthält manche „unbequeme Wahrheit“ über die Einstellungen der Deutschen. Was hat Sie am meisten überrascht?

Überraschend war, wie viele sich eher für Sozialismus als für Kapitalismus aussprechen – wohl auch, weil kaum jemand für kapitalistische Ideen wirbt, während es Parteien gibt, die sich klar zum demokratischen Sozialismus bekennen.

Auffällig ist auch der Vertrauensverlust in Institutionen: Viele Deutsche halten den Verfassungsschutz für politisch instrumentalisiert. Auch das Vertrauen ins Bundesverfassungsgericht ist gesunken. Das hätte man sich in Deutschland früher nicht vorstellen können.

Ein Schwerpunkt Ihres Buches ist auch das Thema Werte und Familie. Die Mehrheit der Deutschen wünscht, dass Kinder idealerweise mit Mutter und Vater aufwachsen. Gleichzeitig sagen 56 Prozent, die Familie finde in der Politik zu wenig Anerkennung. Vernachlässigt die Regierung ein konservatives Kernanliegen?

Also die Fragestellung, würde ich als Meinungsforscher sagen, ist ja schon fast suggestiv. Trotzdem – ja, man vernachlässigt das. Die Familie ist das Fundament der Gesellschaft. Dort, wo Familien nicht gestärkt werden, geht die Gesellschaft kaputt.

Der Staat muss die traditionelle Familie stärken, weil sie als kleinste Keimzelle der Gesellschaft die Werte, die für einen Staat essenziell sind, am stärksten prägt: Vertrauen, Freiheit, Orientierung, Sicherheit – das sind alles Werte, die in der Familie erfahren und gelebt werden.

Deshalb ist es auch wichtig, dass das, was an Familienarbeit geleistet wird, durch den Staat honoriert wird. Es ist wichtig, dass das, was man mit Wahlfreiheit propagiert, auch wirklich erfüllt wird. Der Staat sollte nicht bestimmen, ob Frauen oder Männer ihre Kinder zu Hause betreuen oder in Kindertagesstätten.

Der Staat sollte nicht bestimmen, wie Kinder erzogen werden sollen – das ist die Freiheit der Eltern. Und im Blick auf die Bildungspolitik muss deutlich werden, wie eng der Zusammenhang zwischen Bindung in der Familie und Bildung ist. Die Frage, ob es gelingt, die Familie wirklich wieder zum Fundament der Gesellschaft zu machen, ist entscheidend für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft. Scheitern wir an der Familie, sind alle anderen Bemühungen umsonst.

In der öffentlichen Wahrnehmung wird die klassische Familie weniger propagiert, während Themen wie Regenbogenfahne und queere Anliegen an Sichtbarkeit gewinnen. Wo ist Deutschland falsch abgebogen?

Ich glaube, dass es nicht das Problem ist, dass es Leute gibt, die sich für die Interessen von Queeren, von Lesben und Schwulen einsetzen – das ist völlig legitim und richtig.

Ich glaube, dass der Mut gefehlt hat, sich – wie Sie sagen – für die traditionelle Familie einzusetzen. Wir haben, das ist vorher einmal genannt worden, herausgefunden, dass die Mehrheit der Deutschen sagt: Es ist für die Entwicklung eines Kindes am besten, wenn es mit Vater und Mutter aufwächst. Und es ist eben auch sinnvoll, wenn es für diese Haltung, für diese Mehrheit der Deutschen, eine politische Vertretung gibt, die deren Interessen vertritt.

Ich glaube, es fehlt einfach der Mut – und das ist übrigens die Quintessenz des Buches insgesamt –, dass es ein großes Missverständnis zwischen Bürgern und Politik gibt. Die Politik denkt: Wenn wir das machen, was die Bürger vermeintlich hören wollen, dann werden die uns wählen. Und die Bürger erwarten eigentlich, dass die Politik Orientierung gibt.

Das heißt, dass die Politik selber sagt: „Das ist gut und richtig, und dafür werben wir.“ Deshalb braucht es auch wieder Politiker, die sich dafür einsetzen, dass die Familie gestärkt wird. Ich glaube, dass es dann auch eine andere Diskussion gäbe.

Aber diejenigen, die Aktivismus für die queere Community machen, finden in den Medien oft viel mehr Anklang als diejenigen, die das ganz normale – in Anführungszeichen „langweilige“ – Familienbild propagieren. Ich glaube, da gehört einfach der Mut dazu zu sagen: Das macht Sinn. Auch dieses traditionelle Familienbild zu vertreten. Und die Leute, die in traditionellen Familien aufwachsen, sind durchaus glückliche Menschen.

Ich glaube, dass es hier durchaus eine Veränderung geben wird, weil die jungen Menschen, die in traditionellen Familien aufgewachsen sind, zunehmend sagen: „Ich lasse mir doch nicht einreden, dass das, was ich erlebt habe, auf einmal falsch sein soll und das andere richtig.“

Zum Schluss ein Blick auf die aktuelle Lage: Die Bundestagswahl im Februar dieses Jahres hat das politische Kräfteverhältnis deutlich verschoben – keine der etablierten Parteien ging gestärkt hervor. Wie interpretieren Sie das Ergebnis?

Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik sind Union und SPD nicht mehr die beiden stärksten Kräfte. Die SPD ist auf Platz drei gerutscht. CDU, CSU und SPD kamen zusammen nur auf 45 Prozent der Stimmen – bei allen Wahlberechtigten sogar nur auf 36 Prozent. In den 1970ern hatten sie zusammen über 80 Prozent.

Das zeigt einen epochalen Umbruch. Positiv ist, dass die Wahlbeteiligung deutlich zugenommen hat – auch dank neuer Akteure wie AfD und BSW. Die Parteienlandschaft ist vielfältiger geworden, und mehr Bürger fühlen sich repräsentiert.

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