Sprachgruppenerhebung: Ein schwarzer Tag für die deutsche und ladinische Volksgruppe

Erstmals rückläufig: Ein historischer Einschnitt
Seit der ersten Erhebung 1971 stiegen die Anteile der deutschen und ladinischen Sprachgruppe kontinuierlich, während die italienische Sprachgruppe stetig abnahm. Die aktuellen Ergebnisse brechen mit diesem Muster und markieren einen historischen Einschnitt. Der Rückgang der deutschsprachigen Bevölkerung um 0,8 Prozentpunkte und der ladinischen Gruppe um 0,12 Prozentpunkte ist beispiellos in der modernen Statistik Südtirols.
Ein Rückblick zeigt den bisherigen Trend:
- 1971: Deutsch 62,95 %, Italienisch 33,31 %, Ladinisch 3,74 %
- 1981: Deutsch 66,40 %, Italienisch 29,38 %, Ladinisch 4,21 %
- 1991: Deutsch 67,99 %, Italienisch 27,65 %, Ladinisch 4,36 %
- 2001: Deutsch 69,15 %, Italienisch 26,47 %, Ladinisch 4,37 %
- 2011: Deutsch 69,41 %, Italienisch 26,06 %, Ladinisch 4,53 %
- 2024: Deutsch 68,61 %, Italienisch 26,98 %, Ladinisch 4,41 %
Die Durchführung der Sprachgruppenzählung
Die Sprachgruppenzählung 2024 wurde in zwei Phasen durchgeführt und erreichte eine beeindruckende Beteiligung von 93,1 Prozent der stimmberechtigten Bevölkerung.
- Die Online-Phase (4. Dezember 2023 bis 29. Februar 2024):
Erstmals konnten Bürgerinnen und Bürger ihre Sprachgruppenzugehörigkeit anonym digital erklären. Die Teilnahme erfolgte über aktivierte Bürgerkarten, SPID oder elektronische Identitätskarten. Diese Neuerung vereinfachte den Ablauf erheblich und stärkte die Anonymität der Teilnehmer. - Die Papierphase (1. März 2024 bis 30. Juni 2024):
Bürger, die nicht online teilnahmen, konnten ihre Erklärung in Papierform abgeben. Erhebungsbeauftragte besuchten Haushalte, oder die Formulare konnten bei den Gemeindeschaltern abgegeben werden. Um die Anonymität zu wahren, wurden die Erklärungen in neutralen Umschlägen gesammelt und zentral ausgewertet.
Von den 483.981 Stimmberechtigten gaben 450.373 Personen eine gültige Erklärung ab.
Meran und Sterzing: Besondere Entwicklungen
Neben den landesweiten Zahlen gibt es zwei besonders bemerkenswerte Ergebnisse, die einen Wendepunkt markieren:
- Meran ist erstmals mehrheitlich italienisch. Der Anteil der italienischen Sprachgruppe stieg auf 51,37 Prozent, während die deutsche Sprachgruppe auf 48,26 Prozent zurückfiel. Damit hat die zweitgrößte Stadt Südtirols ihre jahrzehntelange deutsche Mehrheit verloren.
- In Sterzing verzeichnete die italienische Sprachgruppe einen deutlichen Zuwachs von 6,13 Prozentpunkten. Dieser Zuwachs ist einer der höchsten Veränderungen auf Gemeindeebene und ging zulasten der deutschen Gruppe, die entsprechend zurückging.
Wofür ist die Sprachgruppenzählung wichtig?
Die Sprachgruppenzählung hat in Südtirol zentrale Bedeutung:
- Berechnung des ethnischen Proporzes:
Die Verteilung öffentlicher Stellen erfolgt gemäß den Anteilen der Sprachgruppen. Ein Rückgang der deutschen und ladinischen Bevölkerung reduziert ihre Vertretung im öffentlichen Dienst. - Förderung und Finanzierung:
Die Aufteilung der Landesgelder werden in gewissen Bereichen anhand der Anteile der Sprachgruppen vergeben. - Vertretung der Sprachgruppen in Kollegialorganen in Südtirol
Ein Wendepunkt für Südtirol?
Die Ergebnisse der Zählung werfen die Frage auf, ob Südtirol an einem Wendepunkt steht. Der Rückgang der deutschen und ladinischen Gruppen, gekoppelt mit der Dominanz der italienischen Gruppe in wichtigen städtischen Zentren wie Meran und Bozen, verändert das gesellschaftliche und politische Gleichgewicht.
Einbürgerung von Zuwanderern nur ein Teil der Erklärung?
Während ASTAT-Direktor Timon Gärtner die Veränderungen bei der Sprachgruppenzugehörigkeit anlässlich der Pressekonferenz als „statistisch stabil“ einstufte, bewerten viele Vertreter der Minderheiten die Situation deutlich kritischer. Die Sorge, dass der Rückgang der deutschen und ladinischen Gruppen den ethnischen Proporz und die kulturelle Vielfalt Südtirols langfristig gefährden könnte, ist real.
Landeshauptmann Arno Kompatscher hob hervor, dass der Zuwachs der italienischen Sprachgruppe teils möglicherweise auf die Einbürgerung von Zuwanderern zurückzuführen sein könnte, die sich kulturell der italienischen Gruppe zugehörig fühlen. Doch diese Erklärung greift zu kurz. Besonders in Sterzing lassen sich die Veränderungen auch auf andere Faktoren zurückführen. Der Zuzug von Militärmitarbeitern und ihren Familien aufgrund der Bereitstellung von Militärwohnungen hat hier einen wesentlichen Einfluss auf die demografische Entwicklung genommen. Dieser Umstand trägt maßgeblich zum signifikanten Anstieg der italienischen Sprachgruppe in der Gemeinde bei.
Auch der Besuch von Innenminister Piantedosi Mitte November in Südtirol beleuchtete weitere Hintergründe. Er betonte, dass in den vergangenen zwei Jahren 500 zusätzliche Polizisten in Südtirol stationiert wurden. Diese Maßnahmen der öffentlichen Sicherheit führen nicht nur zu einem erhöhten Anteil italienischer Staatsbürger, sondern wirken sich auch direkt auf die Sprachgruppenzusammensetzung aus.
Darüber hinaus zeigt sich in wirtschaftlichen Bereichen eine ähnliche Entwicklung. Insbesondere in Gastronomiebetrieben und bei Supermarktketten fällt auf, dass immer weniger Mitarbeiter der deutschen Sprache mächtig sind. Dieser Trend verweist darauf, dass auch die Wirtschaft stärker in die Pflicht genommen werden muss, um die sprachliche Vielfalt in Südtirol aktiv zu schützen.
Die Ursachen für die Veränderungen sind somit vielfältig und gehen weit über die Einbürgerung hinaus. Es bedarf eines breiten gesellschaftlichen und politischen Ansatzes, um diesen Entwicklungen zu begegnen und die Balance der Sprachgruppen zu sichern.
Ein Weckruf
Für die deutsche und ladinische Volksgruppe ist der 6. Dezember 2024 ein schwarzer Tag. Die Sprachgruppenzählung zeigt, dass die Dynamik der vergangenen Jahrzehnte nicht mehr selbstverständlich ist. Die Politik und die Gesellschaft müssen sich der Herausforderung stellen, wie das kulturelle Gleichgewicht Südtirols auch in Zukunft erhalten werden kann. Ist dies ein Wendepunkt, der das Gesicht des Landes nachhaltig verändern wird?






