von red 18.06.2024 18:07 Uhr

Ettore Tolomei und die italienischen Ortsnamen

Die italienische Version der Toponomastik Südtirols geht auf Ettore Tolomei zurück, einen italienischen Geografen und Publizisten. Sein ganzes Leben setzte er sich aufgrund seines nationalistischen Gedankengutes für die Annexion des südlichen Tirol durch Italien und die anschließende Italianisierung des Landes zwischen dem Brennerpass und der Salurner Klause ein, für das er sich den Begriff „Alto Adige“ ausgesucht hatte.

Bild: STF

Der 1865 geborene Ettore Tolomei wuchs in einer italienisch-nationalistisch gesinnten Familie in Rovereto auf und kam in seiner Jugend in Kontakt mit Südtirol, da er dort des Öfteren seine Großeltern besuchte. Zu jener Zeit gehörte Tirol vom Brennerpass bis zum Gardasee noch zum Habsburgerreich. Während seines Universitätsstudiums in Florenz kam er das erste Mal mit toponomastischen Arbeiten in Berührung. Diese Untersuchungen verstärkten seine nationalistisch-irredentistische Gesinnung abermals. Er war des Weiteren mit seinen Brüdern politisch aktiv und verkehrte stets in patriotisch- politischen Kreisen, indem er unter anderem auch an antiösterreichischen Kundgebungen teilnahm. Nach seiner Promotion schlug Tolomei eine schreiberische Laufbahn ein und verschärfte seine politische proitalienische Grundeinstellung, indem er sie in seinen Veröffentlichungen verstärkt zur Geltung brachte. 1890 gründete er die Zeitschrift „La Nazione Italiana“ und im Laufe der Zeit wuchs sein nationalistischer Fanatismus in zunehmender Art und Weise.

Alles, nur keine Wissenschaftlichkeit

Relativ rasch führte Tolomeis Nationalismuswahn zur Annäherung mit dem vier Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aufkommenden Faschismus von Benito Mussolini und demzufolge zum Start seiner politischen Laufbahn als Senator. Die Figur Ettore Tolomeis ist aufgrund der Rolle als Übersetzer der Südtiroler Toponomastik keinesfalls unbedeutend. Die politische Komponente des Übersetzungsaktes war bezeichnend, da das heutige Südtirol zu Beginn des letzten Jahrhunderts ein für Italien zu eroberndes Gebiet darstellte und einer Übersetzung – rein nationalistisch gesehen – eine außerordentliche Rolle zuteilkam. Trotzdem oder gerade deswegen erwies sich die Übersetzung der historischen deutschen und ladinischen Ortsnamen als kein einfaches Unterfangen, da die Konstellation alles andere als einheitlich war. Der Großteil der Orte besaß zu jener Zeit gar keine italienische Bezeichnung. Tolomei, der eine wissenschaftliche Ausbildung im Gebiet der Geografie genoss, verfügte über keinen sprachwissenschaftlichen oder historischen Hintergrund. Es lag auf der Hand, dass er keine wirkliche Expertise an den Tag legte und aufgrund seiner schnellen Kunst zu „übersetzen“, eher als Pseudowissenschaftler anzusehen ist.

Erste Übersetzungen

Die ersten Übersetzungsversuche stammen aus dem Jahr 1906; sie wurden in der von Tolomei ins Leben gerufenen Zeitschrift „Archivio per l’Alto Adige“ verlautbart. Dessen ungeachtet war das Interesse der italienischen Allgemeinheit sehr gering. Erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und dem italienischen Bündnispartnerwechsel erkannte er eine wiederholte Chance, die übersetzten Fantasienamen zu verbreiten. Diese wurden von einem von Tolomei geführten Gremium der „Reale Società Italiana“ gebündelt und unter dem Namen „Prontuario dei nomi locali dell’Alto Adige“ veröffentlicht. Diese Liste beinhaltete die Übersetzung von nahezu allen geografischen Namen Südtirols.

Tolomeis Motivation

Ein keinesfalls belangloser Gegenstand in Bezug auf die Übersetzung der Ortsnamen ist gewiss die Motivation, die Tolomei zu diesem Schritt verleitete. Die Absichten wiesen anhand seiner Ansichten keinerlei Mehrdeutigkeiten auf. Im Wesentlichen lag dem Akt der Übersetzung die Weltanschauung zugrunde, das gerade annektierte, nahezu rein deutsche Gebiet sei eigentlich seit jeher Teil von Italien und das Vorhandensein fremdsprachiger Elemente auf dem Territorium sei als eine verursachte Verunreinigung auf diesem Weg zu entfernen. Das bestätigt die Natur der Endzwecke, keineswegs als Unterstützung für die sprachwissenschaftliche Untersuchung tätig zu sein, sondern eher durch eine politische Art die Italianità des eroberten Landes zu betonen.

Aufgaben der Übersetzung

Die Übersetzung der Südtiroler Toponomastik ins Italienische sollte laut Tolomei aus drei gleichgestellten Hauptaufgaben bestehen: „restituire“, „sostituire“ und „creare“. So galt es, beispielsweise existierende italienische Formen zu bewahren und ladinische Namen von Ortschaften, wenn benutzbar, einer Annäherung an das Italienische zu unterziehen. In einem anderen Moment wurde nach einem älteren lateinischen Namen oder einer romanischen Wurzel gesucht und diese dann mit italienischen Wortendungen vervollständigt. Wo sich dies als schwerfällig oder gar undenkbar erwies, versuchte Tolomei, den Inhalt des deutschen sprachlichen Begriffes anhand einer Übersetzung wiederzugeben. Diese Absicht erwies sich als nicht immer einfach. Ortsnamen wie Gries, Gais und Plaus wurden ohne zusätzliche Bearbeitung ins Italienische übertragen. Tolomei versuchte, die italienische Sprache und ihre Eigenart ins gerade Licht zu rücken.

Historische Ansichtskarte – Bild: Sammlung Raffeiner

Das Faktum, dass die deutschen Ortsnamen vielfach anhand einer sprachlichen Angleichung übersetzt wurden, kann als Manipulation der Ausgangsbenennung angesehen werden, zumal die italienische Sprache, wenn wir den Sinn des Namens beiseitelassen, einen Zugang zur Realität haben musste. Es ging Tolomei im Grunde genommen nur darum, die italienische Sprache und die italienische Sprachgruppe sichtbar zu machen und dass man durch die Übersetzungen die Natur und die Geografie auf Italienisch lebendig sein ließ. Erst auf diese Weise könnte der prinzipiell italienische Anspruch auf das Gebiet zwischen dem Brennerpass und der Salurner Klause verwirklicht werden.

Tolomei hatte anfangs noch kein Glück

Nach der 1920 erfolgten Annexion Südtirols durch Italien im Rahmen des Friedensvertrages von Saint-Germain kamen die Übersetzungen, wie von Ettore Tolomei erwünscht, nicht direkt zum Einsatz. Die in diesen Jahren amtierende liberale Regierung wünschte sich keine nationalistisch-patriotische Staatsführung in Südtirol und gestattete eine amtliche Verwendung der wenigen italienischen Ortsnamen, die noch unter Österreich im Sprachgebrauch waren. Darüber hinaus erschienen Publikationen wie der Reiseführer des Touring Club Italiano mit den deutschsprachigen Ortsnamen Südtirols. Tolomei konnte trotz seiner Unzufriedenheit die Aufmerksamkeit der zu jener Zeit amtierenden Regierung Giolitti auf die Ortsnamenfrage lenken und führte ein Komitee der Übersetzung und Einführung der italienischen Versionen ein, doch dieses kam zu keinen positiven Ergebnissen.

Machtübernahme Mussolinis als Wegbereiter für Tolomei

Als im Oktober 1922 Mussolini die Macht ergriff und dem nationalistischen Streben Tolomeis nichts mehr im Wege stand, war es um die deutschen und ladinischen Ortsnamen geschehen. Die von ihm angefertigte Übersetzung der Südtiroler Toponomastik fand im Regime des „Duce“ begeisterte Verwendung. Mittels eines königlichen Dekretes wurde sie im Folgejahr zur amtlichen Version erklärt. Dies geschah neben einer ganzen Reihe von anderen Bestimmungen, die später darauf abzielten, das Italienische durchzusetzen und aus Südtirol eine italienische Region zu formen. Neben der Zwangsverwendung der tolomeisch-italienischen Namen wurden auch andere Wege beschritten wie den alleinigen Gebrauch der italienischen Sprache in der Verwaltung und bei Gericht, die mehr oder weniger komplette Ausschaltung der deutschen Presse oder das Verbot des Schulunterrichts in deutscher Sprache. Durch die Übersetzung der alten Ortsnamen wurde der italienischen Sprachgruppe eine Autorität zugeschrieben. Ein Themenkomplex, der anhand dieses Aktes sowie der umrissenen Handlungen auffällt, betrifft die Gestaltung einer nationalen Identität. In Südtirol wurde in der faschistischen Periode nachhaltig versucht, eine nationale italienische Identität zu entwickeln, auszudehnen und in der Folge durchzusetzen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach dem Sturz der Diktatur und dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam man zu einer neuen Lage hinsichtlich des Gebrauchs der übersetzten Ortsnamen Südtirols. Im Jahr 1946 wurden zwischen Österreich und Italien wichtige Abmachungen getroffen und im Rahmen des Pariser Vertrages – nach den beiden unterzeichnenden Außenministern auch Gruber-Degasperi-Abkommen genannt – die Gleichstellung der deutschen und italienischen Sprache in den öffentlichen Ämtern und amtlichen Urkunden festgelegt. Dieses Konzept wurde im Ersten Autonomiestatut zwei Jahre später verfestigt, sodass den Provinzen Bozen und Trient in der Ortsnamengebung, unbeschadet der Verpflichtung zur Zweisprachigkeit im Gebiet der Provinz Bozen, Machtvollkommenheit zugewiesen wurde. 1962 wurde die Maßnahme zur zweisprachigen Ortsnamengebung erneut aufgegriffen, und zwar als Befugnis der zwei Provinzen, im Bereich der Toponomastik, mit der Verpflichtung zur Zweisprachigkeit im Gebiet der Provinz Bozen, Gesetze zu erlassen, was heute noch Gültigkeit besitzt.

Der aktuelle Status

Die mehrsprachige Toponomastik wurde selbst nach dem Untergang des Faschismus offiziell aufrechterhalten; die deutschen und ladinischen Ortsnamen sind weiterhin nur geduldet und keinesfalls gleichberechtigt. Es wird klar, dass dies Auswirkungen auf das Empfinden und die Zugänge zur mehrsprachigen Ortsnamengebung haben muss, da gemeinsam mit dem Ausgang des tolomeischen Übersetzungsaktes Emotionen, Darstellungen und Denkweisen mitschwingen und diese in weiten Teilen der Öffentlichkeit durchaus noch vorhanden sind. Es gibt Stimmen, welche bevorzugen, für die Nennung jeder Ortschaft die Sprache der Mehrheit der Ortsbevölkerung nach der Prozentlösung zu verwenden. Andere plädieren für die wissenschaftliche Lösung: Nur jene ca. 200 italienischen Orts- und Flurnamen, die ante Tolomei historisch belegt und somit nachweislich nicht manipulativ sind, sollten amtliche Verwendung finden. Die Fantasieprodukte Tolomeis würden dessen ungeachtet immer noch Anwendung finden. Der frühere Landtagspräsident Mauro Minniti meinte dagegen, dass die Toponomastik eine Brücke sein und keineswegs eine Mauer darstellen soll, denn bloß in diesem Geist sei laut ihm eine einvernehmliche Lösung denkbar. Eine ähnliche Vorstellung wird in der Diskussion von den nationalistischen italienischen Parteien vertreten, die unter dem im Autonomiestatut „Ortsnamengebung“ genannten Entwurf nicht nur Ortschaften, sondern auch Flüsse, Gebirge, Almen usw. bis zur kleinsten topografischen Einheit erfassen. Dies hat zu einer Ausdehnung der Debatte über die Ortschaften hinaus geführt und die Dispute um den Gebrauch der übersetzten Ortsnamen bei Beschilderungen von Bergwanderwegen erweitert. Die Meinungsverschiedenheiten über die Arbeit von Ettore Tolomei und ihre Umsetzung in Südtirol sind also unterschiedlich und facettenreich und nicht von politischen Gesinnungen zu trennen.

So oder so ist die Toponomastik im Land von Etsch, Eisack und Rienz nach wie vor ein heißes politisches Eisen, das noch lange nicht abgekühlt ist und bei dem es keine gültige Auflösung zur Befriedigung aller Sprachgruppen gibt. So lebt das Erbe Tolomeis weiter, auch wenn er, allgemein auch tituliert als „Totengräber Südtirols“ und „Erfinder des Alto Adige“, bereits im Jahr 1952 gestorben ist und der Geist des Faschismus das 21. Jahrhundert eigentlich nicht mehr beseelen sollte.

Von Andreas Raffeiner

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