Verarmtes Südtirol – Wenn Wohlstand nur noch Statistik ist

Die Statistik des Wohlstands – ein trügerisches Bild
Laut den offiziellen IRPEF-Steuerdaten des italienischen Finanzministeriums für 2022 liegt das durchschnittliche erklärte Bruttojahreseinkommen in Südtirol bei 27.230 Euro. Damit belegt die Provinz Bozen italienweit den zweiten Platz – nur die Lombardei liegt mit 27.890 Euro leicht darüber. Auf Staatsebene beträgt der Durchschnitt 23.650 Euro, in Venetien 25.890 Euro und im benachbarten Trentino 24.750 Euro. Alle Werte stammen aus derselben Quelle: dem Wirtschafts- und Finanzministerium (Steuererklärungen 2022) sowie der Südtiroler Auswertung durch ASTAT und das Arbeitsförderungsinstitut AFI.
Diese Zahlen zeigen, dass Südtirol auf dem Papier sehr gut dasteht. Doch der Durchschnitt täuscht. Das durchschnittliche Einkommen wird von einer kleinen Gruppe hoher Gehälter nach oben gezogen, während die große Mehrheit deutlich weniger verdient. ASTAT weist für Südtirol ein Median-Nettoeinkommen der Haushalte von 33.218 Euro aus – also jenen Wert, bei dem genau die Hälfte der Haushalte weniger verdient. Der Durchschnitt liegt bei 45.350 Euro. Diese Schere zwischen Mittelwert und Mitte ist ein deutliches Zeichen für eine ungleiche Verteilung.
Zum Vergleich: Nach Daten von EU-SILC (EU-Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen) beträgt das medianäquivalisierte Nettohaushaltseinkommen in Österreich rund 33.200 Euro. Diese Zahl berücksichtigt Steuern, Sozialtransfers und Haushaltsgröße und kann daher nicht direkt mit den italienischen Steuererklärungsbruttowerten verglichen werden. Sie zeigt aber, dass österreichische Haushalte real über eine höhere Kaufkraft verfügen – bei ähnlichem oder niedrigerem Preisniveau in vielen Lebensbereichen.
Die Teuerung frisst die Mitte auf
Während die Einkommen in Südtirol seit Jahren kaum wachsen, steigen die Preise weiter. Gemessen am Verbraucherpreisindex FOI (ohne Tabakwaren, Haushalte von Arbeitern und Angestellten) haben sich die Preise in Bozen von Januar 2022 bis August 2025 um 15,1 Prozent erhöht; italienweit lag der kumulierte Anstieg bei 13,1 Prozent. Das erklärt den spürbaren Kaufkraftverlust.
Selbst wer mehr verdient, kann sich real immer weniger leisten. Denn Wohnen, Strom, Lebensmittel, Versicherungen, Dienstleistungen und Mobilität haben sich in den vergangenen drei Jahren überproportional verteuert. Besonders Wohn-, Energie- und Lebensmittelpreise wirken wie ein ständiger Zuschlag auf das tägliche Leben.
Das Ergebnis ist eine schleichende Entwertung der Einkommen. Was früher als solides mittleres Einkommen galt, reicht heute oft kaum mehr für Rücklagen oder größere Anschaffungen. Die Teuerung trifft jene, die einen großen Teil ihres Einkommens für Grundbedürfnisse ausgeben, überproportional stark.
Die neue Armut – trotz Arbeit
Südtirol kennt kaum Arbeitslosigkeit, doch immer mehr Menschen leben in einem Zustand, den Forscher als „working poor“ bezeichnen: Sie haben Arbeit, aber ihr Einkommen reicht nicht, um finanziell stabil zu leben. Viele junge Menschen können sich keine eigene Existenz aufbauen, weil ihre Einkommen nicht mit den Preisen Schritt halten. Laut AFI verdienen rund 60.000 Arbeitnehmer in Südtirol weniger als 10.000 Euro brutto im Jahr – das ist etwa jeder achte Beschäftigte.
Ein Land der Gegensätze
Auf der einen Seite stehen Luxushotels, Zweitwohnungen und ein Wohlstand, der nach außen strahlt. Auf der anderen Seite Haushalte, die Monat für Monat rechnen müssen, ob das Geld bis zum Ende reicht. Südtirol ist reich an Kapital, aber arm an Verteilung. Der Wohlstand des Landes fließt zunehmend in Immobilien und Vermögenswerte – nicht in die Einkommen der Menschen, die hier leben und arbeiten.
Am Ende des Monats nichts mehr übrig
Südtirol ist kein Krisengebiet, sondern ein Land, das langsam von der Teuerung ausgehöhlt wird. Offiziell hohe Einkommen und niedrige Arbeitslosigkeit überdecken den Umstand, dass reale Kaufkraft und finanzielle Sicherheit stetig sinken. Die Inflation frisst die Mitte – still, aber konsequent. Wohlstand misst sich nicht daran, wie viel jemand verdient, sondern was am Ende des Monats übrig bleibt.






