von Alexander Wurzer 13.09.2025 09:30 Uhr

Tourismus frisst Heimat: Südtirol im Ausverkauf

Südtirol, Land der Berge, Land der Täler, Land der Menschen, die seit Jahrhunderten hier leben. Ein Land voller Stolz, Tradition und Kultur. Doch wer mit offenen Augen durch unsere Dörfer geht, sieht eine unbequeme Wahrheit: Dieses Land verkauft sich selbst.

Drohnenfoto der Menschenmassen an der Mittelstation Furnes, die auf die Seceda wollen (Foto: Elide Mussner)

Nicht an die eigenen Kinder, nicht an jene, die hier geboren sind, sondern an jene, die das nötige Kleingeld mitbringen, um sich einen Platz in unserer Landschaft zu kaufen.

Wohnen nur noch für Reiche

Was bedeutet es, wenn ein Land zur Marke wird, wenn Heimat zu einer Ware verkommt? Es bedeutet, dass die Menschen, die diese Kultur über Generationen hinweg getragen haben, Schritt für Schritt verdrängt werden. Heute sind es die Mietpreise, morgen sind es die geschlossenen Vereinsheime, übermorgen die Dörfer, die nur noch im Sommer leben.

Die nackten Zahlen sind bekannt, doch sie erschrecken immer wieder aufs Neue. Nur noch etwa zwanzig Prozent der Südtiroler geben an, dass sie mit den Wohnkosten problemlos zurechtkommen. Für die große Mehrheit sind Mieten und Kredite längst eine Last. Wer eine Familie gründen will, braucht nicht nur Mut, sondern ein Einkommen, das in der Realität kaum erreichbar ist. Währenddessen sind immer mehr neue Chalets, Luxusresorts und Ferienwohnungen entstanden, die kaum ein Einheimischer jemals betreten wird – außer vielleicht als Kellner, Zimmermädchen oder Handwerker.

Kalte Betten, tote Dörfer

In touristischen Gemeinden wie Corvara oder Welschnofen ist es noch drastischer: Dort sind fast die Hälfte aller Wohnungen keine Erstwohnsitze mehr. Fenster bleiben dunkel, sobald die Urlauber abreisen. Ortskerne wirken wie Kulissen, die nur saisonal mit Leben gefüllt werden. Was früher ein Dorf war, wird zur Geisterstadt auf Zeit. Das Leben zieht weiter, die Gemeinschaft zerbricht.

Folklore statt gelebter Kultur

Natürlich, die Traditionen werden noch gezeigt. Die Musikkapelle marschiert auf, die Schützen stellen sich in Reihe, die Kühe werden geschmückt ins Tal getrieben. Doch immer öfter wirken diese Szenen wie eine Inszenierung für die Kameras der Besucher. Authentizität wird zur Show, Kultur zur Folklore. Wer genau hinsieht, erkennt, dass die Kinder in den Vereinen weniger werden, dass der Nachwuchs fehlt, weil junge Familien längst weggezogen sind. Kultur lebt aber nicht von Trachten für Selfies, sondern von Menschen, die sie aus Überzeugung pflegen.

Natur als Freizeitpark

Auch unsere Natur wird in eine Rolle gedrängt, die ihr nicht gerecht wird. Der Pragser Wildsee mit seinen Schrankensystemen, den Shuttle-Bussen und Parkgebühren gleicht mehr einem Freizeitpark als einem Naturdenkmal. An Spitzentagen drängen sich die Menschenmassen an den Drei Zinnen, auf der Seiser Alm oder am Reschensee. Staus, Müll, Lärm – und eine Landschaft, die langsam unter der Last zusammenzubrechen droht. Was einst Rückzugsort war, ist heute Kulisse für Millionen von Bildern. Unsere Berge werden verwaltet wie Attraktionen, nicht wie Lebensraum.

Das Geschäft mit der Heimat

Das große Geschäft mit der Heimat läuft währenddessen ungebremst weiter. Offiziell gibt es einen Bettenstopp, in der Realität entstanden in den letzten Jahren unzählige neue Unterkünfte über den Umweg von Plattformen wie Airbnb. Wohnungen, die eigentlich Familien beherbergen sollten, verwandeln sich in Ferienapartments. Aus Nachbarschaft wird Fluktuation, aus Gemeinschaft wird Anonymität.

Politik auf dem roten Teppich

Die Politik gibt sich besorgt, doch das Handeln bleibt zaghaft. Man diskutiert über Steuern für Zweitwohnungen, man spricht von strengeren Kontrollen, man verspricht Maßnahmen – und währenddessen entstehen neue Luxusprojekte. Manchmal wirkt es, als hätten die Verantwortlichen Angst, den großen Investoren auf die Füße zu treten. Statt klare Regeln zu setzen, rollt man lieber den roten Teppich aus. Halbherzigkeit aber ist tödlich, wenn es um die Zukunft eines Landes geht.

Die soziale Schere

Die gesellschaftlichen Gegensätze werden mit jedem Jahr sichtbarer. Auf der einen Seite die reichen Gäste, die ihre Gläser bei Gourmetfestivals heben, in Wellness-Suiten entspannen und sich Südtirol als Wohlfühloase reservieren. Auf der anderen Seite jene, die in diesen Hotels schuften, die morgens früh aufstehen, um den Gästen den Urlaub angenehm zu machen, und abends in eine überteuerte Einzimmerwohnung zurückkehren. Es ist eine groteske Schere zwischen Reichtum und Realität, die den sozialen Frieden bedroht.

Identität am Abgrund

Was steht auf dem Spiel? Mehr als nur Wohnraum, mehr als nur Natur. Es steht unsere Identität auf dem Spiel. Wenn wir zulassen, dass Südtirol zur bloßen Kulisse für zahlungskräftige Besucher wird, verlieren wir das, was uns ausmacht. Wir verlieren den Stolz, das Selbstverständnis, die Verwurzelung. Und wir verlieren die Zukunft unserer Kinder, die zwischen Armut und Abwanderung wählen müssen, wenn sich nichts ändert.

Zeit für Widerstand

Es ist Zeit für Widerstand. Und dieser Widerstand darf sich nicht in vagen Floskeln verlieren. Er muss sichtbar, spürbar, kompromisslos werden. Es braucht eine klarere Besteuerung von Zweit- und Ferienwohnungen, die endlich die Gerechtigkeit herstellt, die jahrelang mit Füßen getreten wurde. Es braucht strengere Kontrollen, die das Geschäft mit der illegalen Kurzzeitvermietung austrocknen. Es braucht vermehrt Förderungen, die ausschließlich jenen zugutekommen, die hier dauerhaft leben wollen. Und es braucht eine Politik, die den Mut hat, den Investoren die Tür zu weisen, statt sie mit Händedruck zu begrüßen.

Doch all das wird nichts nützen, wenn nicht auch die Gesellschaft aufsteht. Wenn nicht wir selbst unsere Heimat verteidigen. Wenn wir weiter wegsehen, wenn wir weiter schweigen, wird Südtirol in wenigen Jahrzehnten nur noch eine Hülle sein: schön anzuschauen, teuer zu bezahlen, aber innerlich leer.

Ein Blick in den Spiegel

Am Ende bleibt festzuhalten: Dieser Artikel ist inspiriert von der Dokumentation „Kampf um den Tegernsee – Reichtum frisst Brauchtum“ von Claus Elßmann. Dort wird gezeigt, wie ein oberbayerisches Tal unter denselben Mechanismen leidet, die auch bei uns am Werk sind. Die Bilder mögen andere sein, doch die Dynamik ist erschreckend gleich: Immobilienpreise explodieren, kalte Betten breiten sich aus, Tradition wird zur Folklore, Natur zur Kulisse. Wer den Film sieht, erkennt sofort die Parallelen zu Südtirol. Und genau deshalb sollten wir genauer hinschauen, bevor sich die gleichen Fehler auch hier unwiderruflich wiederholen.

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