Alte Tirolensien neu gelesen (Teil 60)

Zwischen Mythos und Machtpolitik: Der historische Kontext von 1809
Der erste Teil des Sammelbandes widmet sich der politischen, sozialen und legislativen Realität rund um die Tiroler Erhebung. Bereits Reinhard Stauber positioniert das Jahr 1809 überzeugend im Kontext der europäischen Umbrüche, und Brigitte Mazohl beleuchtet die Rolle Wiens in einem längeren zeitgeschichtlichen Bogen. Besonders bemerkenswert ist Martin P. Schennachs Beitrag zur revolutionären Gesetzgebung. Er zeigt auf, dass der Tiroler Aufstand keineswegs nur ein traditionelles Aufbegehren war, sondern in mancher Hinsicht auch moderne politische Strukturen erprobte.
Weitere Aufsätze setzen lokale Besonderheiten ins Verhältnis zu strukturellen Fragen: Hans Heiss analysiert die Spannungen zwischen Stadt und Land in Tirol, und Michael Kasper diskutiert die Rolle ländlicher Eliten als ambivalente Träger gesellschaftlicher Umbrüche. Die Beiträge zeichnen ein differenziertes Bild der Tiroler Gesellschaft am Beginn des 19. Jahrhunderts – jenseits nationalistischer oder romantisierender Narrative.
Erinnern heißt umdeuten: Die politische Kultur der Nachgeschichte
Der zweite Teil des Bandes befasst sich mit der Rezeption der Ereignisse von 1809 in Geschichtsschreibung, Literatur, religiöser Praxis, Film und politischer Gedenkkultur. Meinrad Pizzinini und Sigurd Paul Scheichl zeigen auf, wie die Figur Andreas Hofer in unterschiedlichen historischen und literarischen Kontexten als nationaler Mythos, als konservative Ikone oder als Projektionsfläche politischer Wünsche dargestellt wurde.
Besonders innovativ ist der transnationale Ansatz, wie er beispielsweise in den Beiträgen von Laurence Cole zur britischen Erinnerungskultur oder von Birgit Mertz-Baumgartner zur spanischen Literatur verfolgt wird. Roman A. Siebenrock ergänzt dies mit einer religionsgeschichtlichen Perspektive auf die „Herz-Jesu-Verehrung“, die in Tirol mit Vorstellungen von Wehrhaftigkeit und Opferbereitschaft verbunden wurde.
Die Bandbreite der medialen Inszenierungen reicht von den Jubiläumsfeiern 1909 und 1959 (Plattner, Weber/Span) bis zur Darstellung Andreas Hofers in Spielfilmen (Schneider). Besonders eindrücklich ist Manfred Schwarz’ Untersuchung des Sandhofs als Erinnerungsort, der sich vom schlichten Bauernhof zu einem sakralisierten Gedächtnisraum wandelte.
Fazit: Historisierung statt Heroisierung
Abschied vom Freiheitskampf? überzeugt als vielstimmige und methodisch reflektierte Auseinandersetzung mit einem zentralen Kapitel der Tiroler Identitätsbildung. Die Beiträge sind durchweg von hoher wissenschaftlicher Qualität, verzichten auf einfache Antworten und ermöglichen eine kritische Rückschau auf 200 Jahre Erinnerungspolitik. Der Band bietet nicht nur historische Informationen, sondern auch ein Lehrstück in Sachen Gedächtniskultur: Wie Erinnerung gemacht wird – und was sie über die jeweiligen Gegenwarten verrät.
Das vorliegende Werk ist eine verdienstvolle Publikation, die nicht nur für Historikerinnen und Historiker, sondern auch für politisch und kulturell Interessierte von großem Wert ist.
Brigitte Mazohl/Bernhard Mertelseder (Hrsg.): Abschied vom Freiheitskampf? Tirol und „1809“ zwischen politischer Realität und Verklärung (Schlern-Schriften, Bd. 346), Innsbruck 2009.






