von red 24.06.2025 16:13 Uhr

Alte Tirolensien neu gelesen (Teil 59)

Mit dem ersten Band der „Akten zur Südtirol-Politik” (1959–1969) legt Rolf Steininger einen wissenschaftlich hervorragend edierten, quellengesättigten Dokumentenband vor, der das politische Schlüsseljahr 1959 in der Südtirolfrage aufarbeitet. Eine Rezension von Andreas Raffeiner.

Rolf Steininger (Hrsg.): Akten zur Südtirol-Politik 1959–1969 (Bd. 1: 1959. Aufbruch im Andreas-Hofer-Jahr), Innsbruck 2005.

Im Dreh- und Angelpunkt stehen sowohl die zunehmende Radikalisierung der Südtirolpolitik als auch die Eskalation zwischen Rom und Wien, aber auch die beginnende Internationalisierung des Konflikts. Die Edition macht erstmals zentrale Originaldokumente zugänglich und ist eine unverzichtbare Grundlage für jede ernsthafte Beschäftigung mit der Südtirolproblematik im Kalten Krieg. Steininger gelingt es, politische Entscheidungsprozesse transparent zu machen und deren diplomatische sowie ideologische Rahmung offenzulegen. Die Herausgabe ist somit ein historiografisches Ereignis und ein Beitrag zur politischen Bildung.

Einleitung: Dokumente als politische Brennspiegel

Die Südtirolfrage, deren historische Tiefenschichten bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zurückreichen, erlebte im Jahr 1959 eine dramatische Wendung. Der Auftaktband der von Rolf Steininger herausgegebenen Aktenreihe dokumentiert diese Zäsur eindrucksvoll. Durch die Erschließung und Kommentierung von Quellen aus 19 internationalen Archiven wird ein komplexes System multilateraler Machtverhältnisse freigelegt und nicht nur eine Episode beleuchtet. Das Jahr des Gedenkens an Andreas Hofer wird somit zum historischen Kristallisationspunkt nationaler Identitätspolitik, föderaler Dynamiken und geopolitischer Spannungen.

Die Krise des Regionalismus und der Rückzug der SVP

Ein zentrales Narrativ des Bandes ist der politische Bruch in der Region Trentino-Südtirol, der durch die italienischen Durchführungsbestimmungen zum Wohnbau vom 16. Jänner 1959 ausgelöst wurde. Die Südtiroler Volkspartei (SVP) zog sich in der Folge aus der Regionalregierung zurück – ein beispielloser Akt, der die Schwäche des Regionalstatuts offenlegte und das Fundament der sogenannten „Doppelregion“ erschütterte. Die in den Akten dokumentierten Debatten zeigen, wie sich in Bozen und Innsbruck ein neues Selbstverständnis politischer Souveränität herausbildet – als Reaktion auf die Assimilationspolitik Roms und aus wachsender Skepsis gegenüber der Vermittlungsfähigkeit Wiens heraus.

Österreichs Suche nach internationaler Legitimation

Eine der tragenden Linien der Edition ist der Versuch Österreichs, die Südtirolfrage aus dem bilateralen Rahmen zu lösen und auf die internationale Bühne zu heben. Die diplomatischen Initiativen von Außenminister Leopold Figl – und später Bruno Kreisky – gegenüber dem Europarat und der UNO markieren einen Strategiewechsel. Die Reaktionen Roms, insbesondere die scharfen Proteste und Einreiseverbote gegen österreichische Politiker, zeigen nicht nur die Empfindlichkeit der italienischen Regierung, sondern auch deren Angst vor einer internationalen Delegitimierung ihrer Südtirolpolitik. Der Band liefert hier einen entscheidenden Beitrag zur diplomatiegeschichtlichen Forschung der Zweiten Republik.

Der lange Schatten der Geschichte: 1809 als politischer Resonanzraum

Der symbolisch aufgeladene Bezug auf Andreas Hofer, dessen Gedenkjahr 1959 eine Atmosphäre voller Pathos und nationalhistorischer Bedeutung schafft, dient nicht nur als rhetorische Rahmung, sondern auch als identitätspolitischer Katalysator. Steininger zeigt anhand zahlreicher Originaldokumente, wie die Erinnerungspolitik auf beiden Seiten instrumentalisiert wird und dabei ein gefährliches Klima erzeugt, das letztlich auch der Radikalisierung den Boden bereitet. Besonders aufschlussreich sind die diplomatischen Reaktionen auf die Gedenkreden Gschnitzers, deren Wortwahl als Provokation empfunden wurde und mit repressiven Maßnahmen beantwortet wurde.

Methodik und editorische Leistung

Hervorzuheben ist die editorische Sorgfalt, mit der dieser Band erstellt wurde. Die quellenkritische Auswahl, die intertextuellen Verweise auf frühere Veröffentlichungen – wie Südtirol zwischen Diplomatie und Terror – sowie die umfassenden Anmerkungen ermöglichen eine präzise Kontextualisierung der Dokumente. Durch die Einbeziehung von Faksimiles und bislang unveröffentlichten Quellen aus internationalen Archiven unterstreicht Steininger den wissenschaftlichen Anspruch der Edition. Die systematische Auswertung aller relevanten Archive – von Wien über Bozen, Rom und Berlin bis Washington – verleiht der Sammlung ihren einzigartigen dokumentarischen Wert.

Fazit: Ein Grundlagenwerk zur Südtirolfrage

Mit diesem ersten Band der „Akten zur Südtirol-Politik” liegt ein grundlegendes Werk der zeitgeschichtlichen Südtirolforschung vor. Es verbindet editorische Exzellenz mit politischer Relevanz und historiografischer Tiefe. Die akribische Zusammenstellung der Quellen macht es zu einem unverzichtbaren Instrument für Historikerinnen, Historiker, Politikwissenschaftlerinnen, Politikwissenschaftler und alle, die sich vertieft mit Fragen nationaler Minderheiten, internationaler Diplomatie und der Geschichte Mitteleuropas im Kalten Krieg beschäftigen. Mit dieser Edition setzt Rolf Steininger nicht nur Material voraus, sondern auch Maßstäbe.

Rolf Steininger (Hrsg.): Akten zur Südtirol-Politik 1959–1969 (Bd. 1: 1959. Aufbruch im Andreas-Hofer-Jahr), Innsbruck 2005.

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