Alte Tirolensien neu gelesen (Teil 57)

Eine Eisenbahn im Spannungsfeld europäischer Interessen
Bereits im ersten Teil des Buches wird deutlich, dass der Bau der Brennerbahn nicht isoliert aus nationalem Interesse erfolgte. Vielmehr war er in einem vielschichtigen geopolitischen Kontext eingebettet. Held zeigt auf, wie die Interessen bayerischer, österreichischer und lombardisch-venezianischer Akteure auf ein gemeinsames, aber keineswegs konfliktfreies Ziel hinausliefen: die Schaffung der leistungsfähigsten und effizientesten Alpenüberquerung ihrer Zeit zu schaffen. Kapitel zu den diplomatischen Verhandlungen zwischen Wien und München, zu den Einflüssen des Risorgimento sowie zur Rolle der Habsburgermonarchie verdeutlichen die starken politischen Verflechtungen, die den Bauprozess prägten.
Wirtschaftliche Triebkräfte und Widerstände
Im zweiten Teil analysiert Held die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Dabei geht es nicht nur um die Finanzierung, auch wenn die Auseinandersetzungen um Aktienkapital, Konzessionen und Privatinitiativen zentral sind. Er beleuchtet auch die wirtschaftliche Motivation: das Streben nach einem überregionalen Handelsweg, die Erschließung Tirols und die strategische Verbindung des Mittelmeerraums mit Mitteleuropa. Besonders hervorzuheben ist die Behandlung der Finanzierungskrisen und des Einflusses privater Eisenbahngesellschaften – Themen, die auch an die aktuellen Debatten um Public-Private-Partnerships in der Infrastrukturplanung erinnern.
Ingenieurskunst und Pionierleistungen
Der dritte Teil des Buches, welcher der technischen Dimension gewidmet ist, besticht durch seine Tiefe und Detailtreue. Held schildert nicht nur die topografischen Herausforderungen des Brennerpasses, sondern auch die zahlreiche an Bauprojekte entlang der Strecke – von Tunneln und Viadukten bis hin zu Bahnhofsanlagen. Besonders anschaulich wird dieser Abschnitt durch die im Anhang dokumentierten zeitgenössischen Pläne und technischen Zeichnungen. Auch hier gelingt es dem Autor, die Leistungen der Ingenieure nicht nur technisch, sondern auch gesellschaftlich einzuordnen – als Ausdruck einer Epoche, die an den Fortschritt glaubte, aber mit jedem Kilometer neue Risiken einging.
Methodisch fundiert und anschaulich aufbereitet
Die Gliederung des Buches orientiert sich strikt an den drei zentralen Analyseachsen – Politik, Wirtschaft, Technik – und ermöglicht so eine klare Struktur. Der Text ist wissenschaftlich präzise, aber nie trocken. Held argumentiert quellennah, mit Fußnotenapparat und Literaturverzeichnis, bleibt aber leserfreundlich und historisch anschaulich. Ein ausführlicher Anhang mit Kartenskizzen, Zeittafeln und Auszügen aus Originaldokumenten rundet das Werk ab und macht es auch als Nachschlagewerk wertvoll.
Fazit
Hubert Held hat mit Die Baugeschichte der Brennerbahn 1836–1867 ein Werk vorgelegt, das Historiker, Technikinteressierte und Verkehrsplaner gleichermaßen anspricht. Es verbindet politische Analyse, wirtschaftliche Einordnung und technische Darstellung auf hohem Niveau. Seine Leistung liegt in der gelungenen Synthese eines komplexen Prozesses, der weit über eine regionale Eisenbahnlinie hinausweist – hin zu den großen Fragen der europäischen Modernisierung im 19. Jahrhundert. Die zu rezensierende Publikation kann mit Fug und Recht als Meilenstein der Infrastrukturgeschichtsschreibung bezeichnet werden.
Von Andreas Raffeiner
Hubert Held, Die Baugeschichte der Brennerbahn 1836-1867. Von München über Alttyrol nach Venedig aus politischer, ökonomischer und technischer Perspektive, Innsbruck/Wien/Bozen 2018.






