von Alexander Wurzer 20.05.2025 08:30 Uhr

Sterzing betreibt ein gefährliches Spiel

Sterzing wagt den großen Schritt – und begibt sich damit auf gefährliches Terrain: Erstmals in der Geschichte Südtirols wird das Schulressort für die italienischen UND deutschen Schulen in einer Hand vereint. Noch dazu in jener einer italienischen Muttersprachlerin.

APA/dpa

Chiara Martorelli heißt die Frau, die künftig bestimmen soll, wohin sich beide Schulsysteme in der Stadt entwickeln. Man wolle „Austausch statt Trennung“, heißt es. Das klingt fortschrittlich – ist es aber nicht. Es ist ein Angriff auf das Herzstück des Südtiroler Autonomiestatutes: auf Art. 19, dem Recht auf muttersprachlichen Unterricht.

Was der Art. 19 wirklich bedeutet

Zur Erinnerung: Der Artikel 19 des Südtiroler Autonomiestatuts garantiert jeder Volksgruppe in Südtirol das Recht auf Schulbildung in der eigenen Muttersprache – und zwar von der Kindergartenstufe bis zur Matura. Wörtlich heißt es dort:

„Der Unterricht wird in der Muttersprache der Schüler – Deutsch oder Italienisch – von Lehrpersonen erteilt, für die diese Sprache ebenfalls Muttersprache ist.“

Das bedeutet zweierlei:

  1. Deutsche Kinder haben ein Recht auf Unterricht in deutscher Sprache.
  2. Und dieser Unterricht muss von deutschsprachigen Lehrern erteilt werden.

Das ist kein Luxus. Das ist keine politische Laune. Das ist ein verfassungsrechtlich geschützter Minderheitenanspruch, der zurückgeht auf das Gruber-Degasperi-Abkommen von 1946. Ohne diesen Passus gäbe es kein Südtirol, wie wir es heute kennen. Kein friedliches Zusammenleben, keine funktionierende Autonomie.

Was in Sterzing passiert, ist mehr als nur "neu"

Sterzing macht nun Schluss mit der bisherigen Praxis, wonach jede Sprachgruppe ihr eigenes Schulressort verantwortet. Jahrzehntelang war es selbstverständlich, dass sich deutschsprachige Assessoren um die deutschen Schulen kümmern – nicht aus Misstrauen, sondern aus Respekt vor der sprachlichen Identität. Nun soll Chiara Martorelli – eine engagierte Frau, ohne Zweifel – das deutsche Schulwesen mitverwalten, obwohl sie nicht der deutschen Volksgruppe angehört.

Formell ist das zulässig. Doch politisch ist es ein Fehler. Ein gefährlicher noch dazu. Denn Martorelli will nicht bei der Verwaltung stehenbleiben. Sie spricht bereits ganz offen über „gemischte Klassen“, interlinguistische Projekte und die Vision einer „Verschmelzung“ der beiden Systeme. Der Weg ist klar: Weg von der Trennung, hin zu einem gemeinsamen Schulmodell.

Das führt direkt zur Aushöhlung der Minderheitenrechte.

Gemischte Klassen? Mit Art. 19 unvereinbar

Der Plan, deutsche und italienische Schüler gemeinsam zu unterrichten – vielleicht sogar mit einem Wechsel der Unterrichtssprache – steht im klaren Widerspruch zu Art. 19. Denn dieser schreibt vor, dass der Unterricht in der jeweiligen Muttersprache zu erfolgen hat. Ein zweisprachiger Unterricht, wie Martorelli ihn andeutet, bedeutet: mindestens eine der beiden Gruppen wird in Teilen nicht in der Muttersprache unterrichtet.

Das deutsche Schulwesen braucht Schutz – nicht Vermischung

Was viele vergessen: Die Trennung der Schulsysteme ist kein Ausdruck von Feindseligkeit, sondern ein Schutzmechanismus. Der Schutz einer Minderheit, die ihre Sprache, Kultur und Identität im Alltag ohnehin ständig behaupten muss. Und dieser Schutz funktioniert – gerade weil das Bildungssystem ethnisch organisiert ist.

Ein besonders aussagekräftiges Beispiel für diesen Schutz findet sich auf Landesebene: Dort garantiert Artikel 19 des Autonomiestatuts die Existenz eines eigenen Schulamts für die deutschen Schulen, dessen Leitung aus einem Dreiervorschlag der deutschsprachigen Mitglieder des Landesschulrates bestellt wird. Zwar schreibt das Statut nicht ausdrücklich vor, dass der Leiter der deutschen Sprachgruppe angehören muss – doch durch dieses Vorschlagsrecht ist in der Praxis sichergestellt, dass das deutsche Schulwesen von Angehörigen der deutschen Sprachgruppe verwaltet wird – nicht aus politischen Gründen, sondern um das verfassungsrechtlich garantierte Recht auf Selbstverwaltung der eigenen Bildungseinrichtungen konkret umzusetzen. Damit ist die Verwaltung des Bildungssystems klar den jeweiligen Sprachgruppen zugeordnet – ein Prinzip, das der Identitätssicherung dient. Genau diese Absicherung fehlt jedoch auf Gemeindeebene. Dort gibt es keine gesetzliche Verpflichtung, dass ein Stadtrat, der für das deutsche Schulwesen zuständig ist, auch der deutschen Sprachgruppe angehören muss. Dass nun in Sterzing genau dieser Fall eingetreten ist, markiert einen gefährlichen Dammbruch: Was heute als Einzelfall erscheint, könnte morgen als Modell Schule machen – und so eine tragende Säule der Autonomie systematisch aushöhlen.

Natürlich darf es Begegnung geben. Natürlich darf man Brücken bauen. Aber bitte nicht auf dem Rücken der Verfassungsrechte. Die Autonomie ist kein Spielplatz für politische Experimente. Und das muttersprachliche Schulwesen schon gar nicht.

Sterzing verletzt den Geist der Autonomie

Dass man in Sterzing nun meint, den ersten Schritt zur „Integration durch Bildung“ machen zu müssen, mag aus Sicht einiger visionär erscheinen. Aus Sicht der deutschen Sprachgruppe ist es jedoch ein Tabubruch. Denn es geht nicht um eine Verwaltungsfrage. Es geht um den Vertrauensbruch, dass künftig jemand über das deutsche Schulwesen entscheidet, der nicht Teil der Volksgruppe ist. Und das ist nicht nur politisch unklug – sondern autonomierechtlich hoch problematisch.

Die rote Linie ist überschritten

Die Entscheidung in Sterzing mag formal noch legal sein – doch sie ist in der Sache ein Dammbruch. Der Schutz der deutschen Sprachgruppe im Bildungsbereich wurde nicht aus Gewohnheit, sondern aus gutem Grund ins Autonomiestatut geschrieben. Wer heute an dieser Säule rüttelt, stellt die gesamte Autonomie zur Disposition.

Martorelli mag gute Absichten verfolgen. Aber guter Wille reicht nicht. Was wir brauchen, ist Rechtssicherheit, Schutz der Identität und Respekt vor dem, was in Jahrzehnten mühsam aufgebaut wurde.

Sterzing sollte innehalten, bevor es den nächsten Schritt geht. Denn was mit einem Experiment beginnt, kann schnell zur ernsten Bedrohung für das deutschsprachige Schulwesen werden. Und das dürfen wir nicht zulassen.

Bürgermeister Peter Volgger, der die Entscheidung zu dieser Ressortzusammenlegung mitgetragen und verteidigt hat, sprach von einem „halben Schock“ in seiner Fraktion – aber auch von „handfesten Argumenten“, die letztlich überzeugt hätten. Gemeint sind damit weniger Mandatsverteilung oder Frauenquote, sondern vor allem die politische Vision eines vereinten Schulressorts – gewissermaßen als Zukunftsmodell für mehr interkulturelles Miteinander.

Doch genau hier liegt der Irrtum. Denn was im politischen Diskurs als Fortschritt erscheint, ist in Wirklichkeit ein gefährlicher Rückschritt. Kein Argument für Effizienz, Austausch oder Symbolpolitik kann das aufwiegen, was hier aufs Spiel gesetzt wird: das Recht der deutschen Volksgruppe auf eigenständige Schulverwaltung in der eigenen Sprache. Dieses Recht ist kein Verhandlungsmasse im Koalitionsausschuss – und auch kein Spielfeld für politische Experimente.

Wer – wie Volgger – erklärt, man sei sich „der Tragweite bewusst“ und wolle „zur Abwechslung mal die Ersten sein“, sollte sich fragen, ob er auch der Erste sein will, der die Autonomie gefährdet. Denn genau das droht hier zu geschehen. Was heute als Ausnahme dargestellt wird, kann morgen zur Regel werden – und damit wäre ein Schutzmechanismus aufgehoben, der zu den tragenden Säulen des Südtiroler Modells gehört.

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