von red 12.05.2025 18:08 Uhr

Alte Tirolensien neu gelesen (Teil 55)

Mit dem vorliegenden Sammelband Der Bauhof Haiming 1941–45 liegt ein beeindruckendes Beispiel interdisziplinärer Aufarbeitung regionaler NS-Geschichte vor. Der Herausgeber Harald Stadler und die Autoren verbinden archäologische Befunde mit historischer Analyse und dokumentarischer Sorgfalt zu einem bunten und vielschichtigen Mosaik aus Technikgeschichte, Alltagsdokumentation und Erinnerungskultur – und beleuchten dabei ein wenig bekanntes Kapitel der NS-Zeit in Tirol. Eine Rezension von Andreas Raffeiner.

Harald Stadler (Hrsg.), Der Bauhof Haiming 1941–45

Archäologie als Zeitzeugenarbeit

Im Zentrum des Buches steht die Ausgrabung beim Bauhof Innerebner & Mayer am Areal der heutigen Firma Handl Tyrol in Haiming. Barbara Pöll liefert in ihrem Beitrag keineswegs bloß eine methodisch fundierte Auswertung der Grabung, sondern legt auch offen, wie sich bauliche Strukturen, Fundmaterial und topografische Hinweise zu einem komplizierten Bild des historischen Ortes verweben lassen. Die Grabung belegt u. a. die Existenz eines Zwangsarbeiterlagers, das in Zusammenhang mit NS-Großbauprojekten wie dem Wasserkraftwerk „Ötz Unterstufe“ und dem Windkanal „Baustelle Inn“ stand.

Kommentierter Fundkatalog: Alltag, Zwang und Technik

Einen wichtigen Teil des zu besprechenden Werkes stellt der kommentierte Katalog dar, erarbeitet von Elias Flatscher und Elisabeth Waldhart. Hier werden Fundobjekte – von technischen Bauteilen über Alltagsgeschirr bis hin zu Relikten der Lagerinfrastruktur – mit akribischer Genauigkeit und Liebe zum Detail dokumentiert und eingeordnet. Besonders wertvoll ist die Verknüpfung von Sachanalyse mit historischen Kontexten: Was erzählt ein rostiger Haken, eine Schuhsohle, ein Emailschild über den Alltag der hier eingesetzten Zwangsarbeiter?

Trench Art – Erinnerung in Materialform

Ein kleiner, aber bedeutender Beitrag stammt von Nadja Sutterlüti, die eine sogenannte Trench Art-Korbflasche aus dem Zwangsarbeiterlager analysiert. Der Gegenstand wird zum Symbol Identität des Widerstands und zu einem kreativen Ausdruck unter repressiven Bedingungen – ein Stück Menschlichkeit inmitten industrieller Ausbeutung.

Form, Sprache, Relevanz

Das Buch ist klar gegliedert, mit hochwertigem Bildmaterial versehen und auf hohem wissenschaftlichem Niveau verfasst, bleibt jedoch verständlich. Besonders positiv hervorzuheben ist die Sensibilität, mit der die Autoren dem Thema Zwangsarbeit und Tätertopografie begegnen – ohne moralischen Gestus, aber mit tiefer ethischer Verantwortung.

Fazit: Lokalgeschichte mit europäischer Dimension

Der Bauhof Haiming 1941–45 ist ein Paradebeispiel für gelungene Verbindung von Archäologie, Technikgeschichte und Erinnerungsarbeit. Es erschließt einen bislang weitgehend unbeachteten Ort der NS-Wirtschaftsstruktur im Alpenraum und zeigt, wie „unscheinbare“ Plätze Teil eines großen, gewaltsamen Netzwerks waren. Der Band ist sowohl wissenschaftlich wegweisend als auch gesellschaftlich relevant – und sollte in keiner regionalhistorischen Bibliothek fehlen. Ein Muss für Fachleute aus Archäologie, Zeitgeschichte, NS-Forschen, Museen, Gedenkstätten, Lokalhistoriker, Studierende und Forschende zur NS-Zwangsarbeit und alle Leser, die für Technik und Infrastrukturgeschichte Interesse bekunden.

Von Andreas Raffeiner

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Harald Stadler (Hrsg.), Der Bauhof Haiming 1941–45. Eine historisch-archäologische Dokumentation zwischen Wasserkraft „Ötz Unterstufe“ und Windkanal „Baustelle Inn“ (Nearchos/Archäologisch-militärhistorische Forschungen, Bd. 5) Brixen 2021.

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