Das Schützenwesen in Südtirol lebt wieder auf

Die alte Schützenfahne ist inzwischen restauriert. Jörg und seine Freunde haben die Mittel dafür selbst aufgebracht. Anlässlich der feierlichen Prozession zu Ehren des heiligen Antonius von Padua, des Schutzpatrons von Walten, führen sie die Fahne erstmals wieder mit. Es ist der 13. Juni 1949. Ab diesem Tag nehmen die Schützen an allen größeren kirchlichen Feiern in Walten und St. Johann/Wans teil. Der „Herr Jörgl“, immer noch Kurat, freut sich besonders über diese Entwicklung und unterstützt die Schützen, wo er kann. Mit großem Stolz lässt er sich neben den Schützen mit der von ihm geretteten und gesegneten Fahne ablichten. Noch im Jahr 1949 kommt es zur offiziellen Gründung der Schützenkompanie Walten. Damit ist sie die erste, die in Südtirol nach 1918 wieder entsteht. Georg Klotz wird zum Hauptmann gewählt.
1951 ist die Kompanie 20 Mann stark und sehr aktiv. Mit großem Arbeitsaufwand und Unterstützung der Bevölkerung wird das Kriegerdenkmal, eine kleine Kapelle zu Ehren der Gefallenen und Vermissten beider Weltkriege, neu errichtet. Bei der Einweihungsfeier marschieren die Waltner Schützen trotz strikten Waffenverbots mit doppelläufigen Schrotgewehren auf und feuern eine Salve ab. Mehrmals hatten sie das von Polizei und Carabinieri unbemerkt geübt.
Zu dieser Premiere lädt die Kompanie den Südtiroler Landtagspräsidenten und späteren Chef der Südtiroler Landesregierung, Dr. Silvius Magnago, ein. Der ist erstaunt über den Aufmarsch der Schützen. Dass sie Salven schießen und mit Säbel und Gewehr aufmarschieren, bringt ihn sichtlich in Verlegenheit. Jörg weiß, warum er Dr. Magnago zur Feierlichkeit eingeladen hat. Er will ihn für die Schützensache gewinnen. Magnago soll als Politiker bei der italienischen Polizei darauf einwirken, dass die Schützen wieder offiziell zugelassen werden und ihre traditionellen Waffen tragen dürfen. Die bis dahin erfolgten Auftritte der Waltner und Passeirer Schützen sind inoffiziell, also eigentlich nicht gestattet. Das Salvenschießen in Walten ist regelrecht gesetzwidrig, also eine strafbare Handlung aus der Sicht der italienischen Gesetzeshüter.
Ja zu den Schützen - Nein zu den traditionellen Waffen
Jörg lässt nicht mehr locker. Nach der Gründung der ersten Kompanie muss das Ganze auf eine rechtlich unanfechtbare Basis gestellt werden. Erst dann kann man an den Wiederaufbau im ganzen Land denken. Also sucht er bald nach der Einweihungsfeier in Walten Dr. Magnago in dessen Büro in Bozen auf und spricht mit ihm über die weiteren Schützenpläne. Magnago hört ihm zu, reagiert aber entmutigend: „Das werden die Italiener niemals zulassen, Klotz.“
„Das werden wir ja sehen!“, erwidert Jörg. Er hatte längst beschlossen, es auf eigene Faust zu versuchen, sollte er keine Hilfe von Seiten der politischen Führung bekommen. Auf dem Heimweg macht Jörg Halt in Meran, um den einflussreichen Heeresoffizier Cristoforo von Hartungen aufzusuchen. Er kennt den Alpini-Major von früher. Von Hartungen ist eine schillernde Figur. Er steht in italienischen Diensten, auch in geheimen, wohl mit engen Verbindungen zum amerikanischen Spionagedienst. Jörg weiß, dass dieser Major ein Vertrauensmann der Italiener ist, aber vielleicht hat er ein Herz für Tiroler Traditionen! Was ist schon zu verlieren?
Die Schützen werden tatsächlich zugelassen! Heute weiß man auch warum: Die Amerikaner haben nichts dagegen, deshalb sollten es die amerikafreundlichen Kräfte in Italien nicht verbieten. In der beginnenden Phase des Kalten Krieges könnten Traditionsverbände zu natürlichen Verbündeten gegen den Kommunismus werden. Das „Ja“ der Italiener erfolgt mit Abstrichen: Waffen tragen dürfen sie nicht, Ehrensalven schießen auch nicht. Also Schützen ohne Schießeisen, ohne Säbel. Sie würden sich nackt vorkommen.
Alle haben auf seine Rückkehr gewartet. Vergraben werden sie die Gewehre jedenfalls nicht, sie werden sie gut aufbewahren! Sie können von da an ganz offen für die Schützensache werben, landauf, landab. Die meisten sind angesichts der sonst gegen alles Tirolerische feindseligen Haltung italienischer Behörden überrascht, dass Jörg so viel erreichen konnte.
Er registriert, dass von Hartungen oft den Aufmärschen der neu gegründeten Schützenkompanien als Zuschauer in Zivil beiwohnt. Er kann sich denken, dass ihn die Italiener schicken, damit er die Sache im Auge behält. Dass sie den Schützen nicht trauen, kann er ihnen nicht verdenken! Die Aufbauarbeit schreitet gut voran. Immer mehr junge Leute lassen sich für die Schützenidee begeistern und für die Aufbauarbeit gewinnen. Die Aktivitäten, vor allem in der wärmeren Jahreszeit, nehmen zu. Immer offener und selbstverständlicher werden die Aufmärsche. Die Anlässe werden geschickt gewählt.
Erstmals wieder eine Andreas-Hofer-Gedenkfeier
Am 20. Februar 1952, dem Todestag Andreas Hofers, findet bei der Kirche am Sandhof in Passeier, Hofers Geburtshaus, erstmals seit 1918 eine Gedenkmesse mit anschließender Ehrung der Tiroler Freiheitshelden von 1809 statt. Die Waltner Schützenkompanie tritt vollzählig an und wird durch Interessierte aus anderen Ortschaften des Tales verstärkt.
Alles klappt perfekt. Viele ältere Festteilnehmer halten ihre Tränen nicht zurück. Sie hatten nicht mehr daran geglaubt, diesen Gedenktag nach so vielen Jahren wieder so würdevoll erleben zu dürfen. Die Gründer und aktiven Schützen fühlen sich in ihren Plänen bestätigt und bestärkt. Ihre Opfer, vor allem die finanziellen, sind groß. Fahrten sind zu bezahlen, und neue Trachten anzuschaffen. Jörgs Frau ist damit einverstanden, dass er auch einen Teil ihres Einkommens ins Schützenwesen investiert. Dazu gehören bald die Treffen mit Schützenorganisationen in Nordtirol, Österreich und Bayern. Die Wiederaufnahme dieser Beziehungen ist wichtig für die Belebung der Schützenidee und für die damit verbundenen politischen Zielsetzungen. Diese Kontakte sind wichtig.
Kameradschaftliche Verbindungen nach Nordtirol
1952 fahren die Waltner Schützen gemeinsam mit anderen Interessierten und in Begleitung der Musikkapelle St. Leonhard nach Salzburg. Sie nehmen an der großen Erinnerungsfeier an die Schlacht von 1809 am Pass Lueg teil, wo die Franzosen erfolgreich geschlagen worden waren. Es ist der erste Auftritt Südtiroler Schützen in Österreich. Sie sind der Mittelpunkt der Feier, sie werden bestaunt und umjubelt, das Vaterland nimmt sie herzlich auf.
Auch die Schützenkompanie Wilten aus Innsbruck ist anwesend. Sie gilt als die größte und bekannteste Kompanie des gesamten Landes Tirol. Die Wiltener Schützen leihen den Kameraden aus Walten ihre Gewehre, damit sie eine Ehrensalve für die Gefallenen abfeuern können. Der Grundstein für die Freundschaft zwischen den Passeirer und den Wiltener Schützen ist damit gelegt. Wer die Wiltener Kompanie zum Freund hat, kann keinen besseren Fürsprecher haben. Diese übt von jeher Einfluss im Bund der Tiroler Schützenkompanien, also in der Führungsriege der Nordtiroler Schützen, aus. Es häufen sich die Einladungen nach Nordtirol und darüber hinaus. Aus finanziellen und zeitlichen Gründen ist es nicht möglich, allen zu folgen.
Jörg und seine Passeirer Schützen sind bald in der gesamten Alpenregion ein Begriff. 1953 werden auch im Hauptort des Tales, in St. Leonhard, sowie in Platt Kompanien gegründet. Gemeinsam mit der Waltner Kompanie schließen sie sich zum Schützenbataillon Passeier zusammen und knüpfen damit an jenes an, das sich beim Abwehrkampf gegen die Napoleonischen Truppen an der damaligen Südgrenze des Landes, in Welschtirol (Trentino), hervorgetan hatte. Wegen seiner Entschlossenheit und Verwegenheit war es unter der Bezeichnung „Löwenkühne“ und „Tapferste der Tapferen“ in die Geschichte eingegangen.
Jörg trifft sich mit maßgeblichen Nordtiroler Schützenoffizieren in Innsbruck und nimmt zum Chefredakteur der einzigen deutschen Zeitung Südtirols, der Tageszeitung „Dolomiten“, Kontakt auf. Dr. Friedl Volgger, einer der Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, hat 1945 die erste deutsche Partei, die Südtiroler Volkspartei, mitbegründet und seinerseits wichtige Kontakte nach Nordtirol. Er kommt in den folgenden Jahren öfter nach Walten. Jörg lädt ihn als Redner zu Versammlungen und als Ehrengast zu Feierlichkeiten ein. Dabei gibt es manch vertrauliches Gespräch über die zunehmende Unterdrückungspolitik der Italiener.
Schützenmajor und Familienvater
Der Aufbau des Schützenwesens geht kontinuierlich weiter. Jörg ist unermüdlich tätig und nimmt Verbindung zu Interessierten am Schützenwesen im Wipptal (Sterzinger Raum) sowie im oberen Eisacktal auf. Diese Einsätze sind mit großen Opfern verbunden. Es ist keine Seltenheit, dass er mit seinem Freund, dem „Pisn-Hans“, zu Fuß über den Jaufenpass nach Sterzing geht, um von dort mit Zug oder Autobus die restliche Strecke zu fahren. Sie sind jedes Mal einen ganzen Tag unterwegs, ihre Arbeit daheim ruht. Bei Schnee sind solche Märsche nicht nur anstrengend, sondern wegen der Lawinen auch gefährlich. Bis in den Mai hinein liegt am Jaufen Schnee.
Jörg hat fast jeden Sonntag eine Verpflichtung, auch im Herbst und im Winter. Immer öfter ist er den ganzen Sonntag, den einzigen freien Tag in der Woche, weg. Seine Frau ist darüber nicht glücklich, aber sie weiß, dass dieses Opfer notwendig ist. Sie weiß auch, dass sie Jörg nicht davon abhalten kann, was er als seine Aufgabe betrachtet.
Doch leicht fällt ihr der Verzicht auch nicht leicht. Inzwischen ist das vierte Kind, ein Mädchen namens Judith, geboren. Die junge Mutter ist froh, dass alles gesund ist. Glücklicherweise hat sie eine Stelle in der Volksschule von Walten bekommen. Das erspart ihr kilometerlange Fußmärsche. Für die Kinderaufsicht daheim und für die Hausarbeit hat sie eine „Dirn“, ein Hausmädchen. Vater ist während der Woche meistens in der Nähe des Hauses. Entweder arbeitet er in der Schmiedewerkstätte, beim Holz im nahen Wald oder auf dem Feld. Später übernimmt er vom Nachbarn das mit Wasserkraft betriebene Sägewerk, eine alte Venezianersäge. Er schneidet so auch selbst das Holz. Wir sehen ihm aufmerksam zu, wenn er abends in der Stube sorgfältig die vielen Zacken der großen Säge feilt. Da ist er kaum einmal allein mit uns. Fast jeden Abend kommen Nachbarn oder Schützenkameraden. Meist wird über Politik und das Schützenwesen gesprochen. Die Tätigkeiten werden von Jahr zu Jahr intensiver, die Vorbereitungen zeitraubender.
Vom eigenen Kurat angezeigt
Freud und Leid liegen auch in Walten eng beisammen. Das Dorf verabschiedet seinen langjährigen Kuraten, den „Herrn Jörgl“. Er stirbt im April 1958. Die Schützen halten Ehrenwache und tragen seinen Sarg zum Friedhof. Es ist ein besonders großes und feierliches Begräbnis. Er wird in der Mitte der Friedhofsmauer beigesetzt, das große Holzkreuz mit seinem Namen erhebt sich über die schmiedeeisernen Kreuze seiner Schützlinge.
Walten bekommt einen neuen Kuraten, Herrn Franz Simmerle, einen relativ jungen Priester. Das Dorf muss sich in vieler Hinsicht umstellen. In manchen Dingen, vor allem dem aufkommenden Tourismus gegenüber, ist er aufgeschlossener als sein Vorgänger, der für den aufstrebenden Skisport im Tal und die Gastronomie nicht viel übrig hatte.
So wie jedes Jahr feuern die Waltner Schützen auch 1957 bei der Feier am 20. Februar am Kriegerdenkmal zu Ehren der Gefallenen eine Salve ab. Der neue Kurat hat damit im Gegensatz zu seinem Vorgänger nicht nur keine Freude, sondern ärgert sich und erstattet Anzeige bei den Carabinieri von St. Leonhard. Jörg Klotz und zwei seiner Offiziere werden nach Meran gebracht und dort eingesperrt. Jörg bekommt sieben, die beiden Offiziere fünf Tage Arrest. Sie wissen noch nicht, wem sie das zu verdanken haben. Die Gefängnisverwaltung hat keine Freude. Die zunehmende Solidarisierung der Bevölkerung mit den Inhaftierten bringt sie in Verlegenheit. Außerdem nehmen die Burggrafler Schützen die Türen ein. Mehrmals täglich erscheinen Abordnungen, die sich nach dem Befinden der Gefangenen erkundigen. Bei der Gefängnisverwaltung werden für sie Obst, Wein und Speck abgegeben. Die drei können nicht alles selbst verzehren und schenken einen Teil den anderen Gefangenen und dem Personal, das den Schützen von Anfang an mit Sympathie begegnet war.
Bei der Verhandlung wird der Kläger Franz Simmerle, Kurat von Walten, als Zeuge aufgerufen. Doch er ist nicht anwesend, was allgemeines Kopfschütteln hervorruft. Der Richter äußert sich wenig freundlich über den Kläger, welcher der Vorladung nicht nachkommt. Er wird zu einer Geldstrafe von 10.000 Lire verurteilt, für damalige Verhältnisse viel Geld.
Die Gefangenen werden mit der Ermahnung, nicht mehr gegen das Waffengesetz zu verstoßen, entlassen. In Walten werden sie von ihren Kameraden mit Jubel empfangen. Kurat Simmerle aber hat es von da an im Bergdorf nicht leichter, er hatte sich mit dieser und anderen „Heldentaten“ gar nicht beliebt gemacht.
Fortsetzung folgt…
Der obige Auszug stammt aus dem Buch „Georg Klotz – Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols“, der Biografie von Dr. Eva Klotz über ihren Vater.
Klotz, Eva: Georg Klotz. Freiheitskämpfer für die Einheit Tirols. Eine Biografie. Neumarkt an der Etsch: Effekt Verlag. 2002. ISBN: 3-85485-083-2.






