Die Ereignisse von Tesselberg im Kontext der Südtiroler Geschichte

Historischer Hintergrund und politische Spannungen
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Südtirol im Rahmen des Vertrags von Saint-Germain von Österreich an Italien abgetreten. Diese Entscheidung brachte die deutschsprachige Bevölkerung der Region in eine schwierige Lage. Die darauf folgende Politik der Italianisierung unter Benito Mussolini zielte darauf ab, die kulturelle Identität der Südtiroler zu unterdrücken und die Region vollständig in den italienischen Staat zu integrieren. Diese Maßnahmen führten zu einem tiefen Gefühl der Entfremdung und Feindseligkeit zwischen der einheimischen Bevölkerung und den italienischen Behörden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Versprechen der Autonomierechte, die Südtirol im Pariser Vertrag von 1946 zugesichert wurden, nicht vollständig erfüllt. Die italienische Regierung setzte ihre Assimilationspolitik fort, was zu wachsendem Unmut und Radikalisierung unter den Südtirolern führte. In den 1950er- und 1960er-Jahren äußerte sich dieser Widerstand in einer Serie von Anschlägen und Sabotageakten, die als „Bombenjahre“ bekannt wurden. Die „Pusterer Buibm“, eine Gruppe von Widerstandskämpfern, waren ein zentrales Symbol für den Kampf um mehr Autonomie oder sogar die Rückkehr zu Österreich.
Der Vorfall in Tesselberg
Am 10. September 1964 erreichte der Konflikt seinen dramatischen Höhepunkt. Die italienischen Sicherheitskräfte entdeckten das Versteck der „Pusterer Buibm“ in einem Heustadel in Tesselberg. Diese Entdeckung führte zu einer großangelegten Militäroperation. Tausende von Soldaten wurden in das kleine Bergdorf entsandt, um die Widerstandskämpfer zu fassen. Die Dorfbewohner gerieten unverschuldet in die Gewalt der Sicherheitskräfte.
Die Operation, die in Tesselberg stattfand, war von extremer Brutalität geprägt. Die Dorfbewohner wurden aus ihren Häusern geschickt und auf einem Platz zusammengetrieben. Die Männer wurden mit Handschellen gefesselt und mussten auf dem Boden liegen, während Frauen, Kinder und ältere Menschen in das Dorfgasthaus gesperrt wurden. Die Soldaten durchsuchten alle Häuser, zerstörten die Infrastruktur und setzten Scheunen und andere Gebäude in Brand. Die Gewalt ging so weit, dass sogar ein taubstummes Mädchen angeschossen und liegengelassen wurde, bevor es später von Dorfbewohnern ins Krankenhaus gebracht wurde.
Der entscheidende Moment: Giancarlo Giudici
In dieser extrem angespannten Lage traf der Kommandant der Carabinierilegion Bozen, Oberst Franco Marasco, per Hubschrauber in Tesselberg ein. Marasco befahl die sofortige Exekution von 15 Dorfbewohnern und die Zerstörung des gesamten Dorfes. Dieser Befehl verdeutlichte die grausame Repression, die die italienischen Behörden gegen die Südtiroler Bevölkerung richteten.
Es war der Carabinierigeneral Giancarlo Giudici, der in diesem Moment eine entscheidende Rolle spielte. Giudici, der zu dieser Zeit als Oberstleutnant das Kommando über die in Tesselberg eingesetzten Truppen hatte, weigerte sich, den Befehl von Marasco auszuführen. Diese Weigerung, die außergewöhnlichen Mut und moralische Integrität erforderte, verhinderte das geplante Massaker und bewahrte das Dorf vor völliger Zerstörung. Giudici befahl, Marasco per Hubschrauber aus dem Dorf abzutransportieren, um weiteren Schaden zu verhindern. Sein entschlossenes Handeln rettete das Leben der Dorfbewohner und bewahrte Tesselberg vor der vollständigen Zerstörung.
Die Nachwirkungen und späte Ehrung
Die unmittelbaren Konsequenzen für Giudici waren schwerwiegend: Er wurde am nächsten Tag nach Udine versetzt, was darauf hindeutet, dass seine mutige Entscheidung, sich dem Befehl zu widersetzen, von seinen Vorgesetzten nicht unterstützt wurde. Trotz dieser persönlichen Konsequenzen blieb Giudici seinen Prinzipien treu und verhinderte so ein Massaker, das als eines der dunkelsten Kapitel der Repression in Südtirol in die Geschichte eingehen könnte.
Über die Jahrzehnte hinweg geriet die Tat von Giancarlo Giudici weitgehend in Vergessenheit. Erst am 29. Oktober 2022, fast 60 Jahre nach den Ereignissen, wurde Giudicis mutige Tat offiziell gewürdigt. Auf Initiative der Gemeindeverwaltung von Gais, unterstützt von Ehrenmajor der Schützen Josef Kaser und der ehemaligen Landesrätin und Historikerin Martha Stocker, wurde seiner Tochter Maria Elisabetta Giudici eine Ehrenurkunde überreicht. Diese Zeremonie fand in Tesselberg statt und war ein wichtiger Akt der symbolischen Wiedergutmachung und Anerkennung einer Tat, die viele Jahre lang ungewürdigt geblieben war.
Bedeutung und Lehren aus den Ereignissen
Die Ereignisse von Tesselberg und die späte Anerkennung von Giancarlo Giudici sind ein bedeutendes Zeichen der Versöhnung. Sie zeigen, dass es trotz der tragischen Vergangenheit möglich ist, Brücken zu bauen und die Wunden der Geschichte zu heilen. Die Ehrung ist nicht nur eine Anerkennung des persönlichen Mutes von Giudici, sondern auch ein Symbol für den fortwährenden Prozess der Aufarbeitung und Versöhnung in Südtirol.
Diese Ereignisse erinnern uns daran, wie fragil die Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Zeiten der Krise sein können. Die Geschichte von Tesselberg ist ein Mahnmal für die Gefahren von Intoleranz und Gewalt, aber auch ein Beispiel dafür, wie einzelne Menschen durch ihr Handeln das Schlimmste verhindern können. Die Erinnerung an diese Ereignisse sollte uns alle dazu anregen, für Frieden, Gerechtigkeit und die Wahrung der Menschenrechte einzutreten, unabhängig von den Umständen.
von Andreas Raffeiner
Szenische Erzählung vor zehn Jahren
Anlässlich 50 Jahre zu den Ereignissen von Tesselberg organisierte der Südtiroler Schützenbund (SSB) eine szenische Erzählung mit einem fiktiven Zeitzeugen (UT24 berichtete).






