1940: Die Auswanderung

Zu einer Zerreißprobe für die Südtiroler Bevölkerung wurde das unselige Optionsabkommen, das Hitler und Mussolini im Juni 1939 in Berlin unterzeichneten. Die Bevölkerung wurde gezwungen, eine Wahl zu treffen: entweder für ihre italianisierte, herabgewirtschaftete Heimat, oder aber für die Beibehaltung ihrer Kultur, wenn auch fern ihrer Heimat und mit ungewisser Zukunft. In großer Zahl, über 74.000, zogen damals die Auswanderung einer gewaltsamen Integration vor. In der Südtiroler Bevölkerung ergab das eine sehr traurige Spaltung mit schwerwiegenden Folgen für eine weitere gemeinsame Zukunft, die auch lange nicht wieder gutzumachen war. Zum Glück sind dann nicht alle, die sich für die Auswanderung entschieden hatten, auch wirklich ausgewandert oder konnten – freulich unter großen Schwierigkeiten – später wieder in die angestammte Heimat zurückkehren.
Abschied von der Heimat
Wie die überwiegende Mehrheit der Südtiroler entschied sich auch die Familie Andergassen im Zuge des Umsiedlungsabkommens zwischen Hitler und Mussolini für die Abwanderung, die sogenannte „Heimkehr“ ins Reich. Nach 20 Jahren italienischer Unterdrückungspolitik hatten viele die Hoffnung aufgegeben. Für Familie Andergassen zählte vor allem eines: Sohn Günther sollte eine Ausbildung in seiner Muttersprache ermöglicht werden.
Unser Schicksalstag war der 24. September 1940. Ich erinnere mich noch sehr genau an die Abschiedsstunde, als wir drei, mein Vater, meine Mutter und ich, auf dem Bozner Bahnsteig standen, umringt von Verwandten, Bekannten und Freunden. Alle hatten Tränen in den Augen, denn die „Endgültigkeit“ dieses Abschieds war den vielen, die gekommen waren, bewusst. Und wir alle ahnten, dass es ein Abschied auf lange Zeit sein würde. Tatsächlich konnten wir drei unseren Heimatboden erst nach zehn langen jahren wieder betreten.
Meine Eltern und ich, wir standen vor einem Abenteuer ohnegleichen. Unsere starke Bindung an die angestammte Heimat musste überwunden werden, und das war so unsagbar schmerzlich, dass wir uns später, als wir uns im „neuen Leben“ längst zurechtgefunden hatten, noch öfters gefragt haben, ob es nun wohl richtig gewesen war, Südtirol zu verlassen. Ich, der ich der eigentliche Grund für diese Entscheidung gewesen war, möchte, trotz allem, was uns damals noch bevorstand, auch im Nachhinein ganz entschieden „ja“ sagen.
Ankunft in der „Ostmark“
Wir kamen also am Abend des 24. September 1940 in Innsbruck in der „Ostmark“ an. „Österreich“ war ja im Großdeutschen Reich seit dem „Anschluss“ 1938 kein gültiger Begriff mehr. Da wir aber Österreich gar nicht als solches gekannt hatten, war da für uns kein Unterschied mehr; unser Zielland war ganz einfach „Deutschland“ gewesen.
Das Umsteigen in einen Zug Richtung Linz war ebenso gut organisiert wie die Unterbrechung der Fahrt in Attnang-Puchheim. Es waren noch andere Auswanderer aus Südtirol mit dabei. Am nächsten Tag ging es weiter nach Wels. Dort hatte mein Vater die Verbindung mit einem alten Freund aufgenommen, mit dem er seinerzeit eine gemeinsame Lehrlingszeit als angehender Goldschmied in Wien verbracht hatte. Freund Hans Doppler war damals in Wels recht gut situiert und hatte meinem Vater versprochen, er würde uns fürs Erste in unseren neuen Leben behilflich sein können.
Ich möchte die Unannehmlichkeiten der ersten Wochen dieses neuen Lebens nicht in allen Einzelheiten schildern. Aber so gut wie nichts, was uns versprochen worden war, traf ein. Es stand nicht einmal die kleinste Wohnung zur Verfügung – trotz der Zusagen durch den Welser Bürgermeister. Meine Eltern waren nur sehr provisorisch weit außerhalb der Stadt untergebracht, und ich lebte von ihnen getrennt bei der Familie Doppler. Als wir uns auf der Suche nach einer Unterkunft auf den Weg machten, hieß es gleich einmal, dass man für „diese Gesellschaft“ (Südtiroler) nichts übrig habe. Uns traf diese Rede hart. Zwar war mein Vater in der Abzeichen-Fabrik des Herrn Hans Doppler in einer finanziell eher guten Position als „Aufseher“ über fünfzig dort angestellte Frauen, aber das entsprach ganz und gar nicht seinen Vorstellungen. Er hatte doch bisher immer als handwerklich und künstlerisch begabter Goldschmied gearbeitet. Aber schließlich kam er doch in einer Dopplerschen Goldschmiedewerkstatt im Zentrum von Wels unter. Die übrigen Lebensbedingungen in dieser Stadt entsprachen allerdings ganz und gar nicht den Vorstellungen meiner Eltern. […]
Fortsetzung folgt…
Der obige Auszug stammt aus dem Buch „Ohne Opfer keine Freiheit“ von Prof. Dr. Günther Andergassen.
Andergassen, Günther: Ohne Opfer keine Freiheit. Autobiographie eines Musikers und Freiheitskämpfers: Neumarkt a.d. Etsch: Effekt!. 2010. ISBN: 978-88-9040-546-4






