„Giovinezza, Hosenfetza“

„Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie weit die faschistische Diktatur in das Private eingriff. Kein Wort Deutsch während der Schulausbildung! Es gab nur Italienisch als Unterrichtssprache. Und selbst die Einheimischen durften „offiziell“ (bei Behörden) nur italienisch sprechen. Meine Eltern taten aber alles für ihren einzigen Sohn. Sie riskierten die deutsche Katakombenschule. Ich empfand das als großes Glück. Mit Heft und Bleistift unter dem Hemd ging ich einmal in der Woche quer durch den Bozner Stadtteil Quirein, wo wir im Tiefparterre der „Villa Margot“ bescheiden wohnten, nach Gries in die Fagenstraße, wo eine Deutschböhmin namens Kurzmanek auf mich wartete, um mich in die deutsche Sprache einzuführen.
Nicht alle Südtiroler Kinder meines Alters hatten solches Glück und mussten daher später oft so manches nachholen, was ihnen in den 30er-Jahren zu lernen nicht vergönnt gewesen war. Dieser einen Wochenstunde bei jener ausgezeichneten Deutschlehrerin verdankte ich es, dass ich gerade in meiner deutschen Muttersprache eine vollgültige Ausbildung erfuhr, sodass ich später im Innsbrucker Realgymnasium kaum etwas nachzuholen hatte.
Auch im heimatlichen Margreid war der Druck spürbar, der vom Faschismus ausging: im Jahr 1937 verhafteten die Carabinieri meinen Onkel Emil Kobler, der sich „schuldig“ gemacht hatte, weil er mit Alterskollegen deutsche Volkslieder gesungen hatte.
Lederhosen und Dirndln als Protest
Gerne trugen wir deutschen Kinder weiße Stutzen (Kniestrümpfe), etwa wenn wir an Sonntagen mit Freunden und Bekannten Wanderungen in der Umgebung unternahmen. So manch einer von uns, die wir gelegentlich ohne Begleitung von Erwachsenen stramm durch die Gegend spazierten, wurde von italienischen Jungfaschisten nicht nur verbal angegriffen, sondern auch verprügelt, vor allem, wenn wir an Sonntagen mit einem Strauß „deutscher“ Kornblumen von den Feldern heimkehrten. Lederhosen haben wir zum Trotz getragen in dem Bewusstsein, den „anderen“, um nicht zu sagen: den „Walschen“ etwas „zu Fleiß“ tun zu können. Mich wundert heute noch, dass unsere Familie mit unserem „Katakombenunterricht“ gut durchgekommen ist. Dies trotz nicht wenig Schikanen von der „anderen“ Seite. […]
Volkslieder zu singen galt als gefährlich, man hätte doch daraus auf heimliche Zusammenkünfte schließen können, bei denen wir vielleicht gemeinsame deutsche Lieder gesungen hätten. Liedersingen war höchstens dann und wann auf der Alm möglich, wohin mich meine Eltern ab dem sechsten Lebensjahr jeweils für zwei Monate während der Sommerferien brachten. Ich wohnte dort bei den alten Eltern der Familie Profanter vom Plojerhof aus Kastelruth, auf ihrer Schwaige auf der Seiseralm. Die „Alten“ – schon im Ausgedinge – betreuten die Hütte den Sommer über und verbrachten dort eben ihre Zeit. Ich fühlte mich wohl behütet und beschützt. […] Auf der Alm wurden auch Volkslieder gesungen und mit Zither und Gitarre begleitet. Aber man war nicht einmal im Tschapit, zu Füßen des Schlerns, ganz sicher, denn gelegentliche „Besuche“ durch Carabinieri, die aus dem tiefer gelegenen Bad Ratzes heraufkamen, brachten auch da eine gewisse Unruhe. Alle spürten den Druck des Faschismus, der uns unsere Identität, Sprache und Bräuche, unsere angestammte Kultur mit Gewalt nehmen wollte. […]
Mir ist heute noch weh ums Herz, wenn ich mich daran erinnere, wie wir zum letzten Mal den Weg an den „Morgateggelern“ vorbei – so nannte man die täglich am Morgen zuerst von der Sonne beschienenen kleinen Steinhaufen – gegangen sind und so das „Tschapit“ zu Füßen des Schlerns verließen. Uns war bewusst, dass wir unsere angestammte Heimat lange nicht mehr wiedersehen würden. Mit der Option hatten sich meine Eltern entschlossen, aus Südtirol wegzuziehen, um mir, dem inzwischen Zehnjährigen, die weitere Ausbildung in der deutschen Sprache zu ermöglichen. Mein Vater hätte keine anderen Gründe gehabt, Südtirol zu verlassen. Wir hatten keine Besitzungen, wenn man von einem kleinen Weingarten in Margreid absieht, den meine Mutter als Siebentel-Anteil geerbt hatte, waren doch in ihrer Familie sieben Kinder gewesen. […]
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich als etwa Siebenjähriger mit anderen Buben meines Alters in schwarzen Hemden, die man uns übergestülpt hatte, die Mädchen in weißen Blusen, auf dem uns so verhassten „Siegesplatz“ vor dem Denkmal so Aufstellung nehmen musste, dass das Luftbild für die über uns fliegenden Flugzeuge das Wort „DUCE“ ergab. Ich zog auf meinem wöchentlichen Gang in die Deutschstunde immer an jenem „verlogenen“ Siegesdenkmal vorbei nach Gries zu meiner Deutschlehrerin in die Fagenstraße.
Wir Südtiroler Kinder hielten die Unterdrückung durch den Faschismus, so weit sie nicht von uns ferngehalten wure, nur mit zusammengebissenen Zähnen aus. Unsere Eltern versuchten ihr Bestes, uns die bedrückende politische Situation nicht zu sehr spüren zu lassen. Spott war gelegentlich eine bescheidene „Befreiung“ von dem Druck. So sangen wir halt, wann immer in der Schule wir diesen Schmachtfetzen singen mussten, auf die „Giovinezza“-Hymne: „Giovinezza, Hosenfetza“.
Katholische Kirche als Bollwerk gegen den Faschismus
Es gab nur wenige Reservate, in die wir Südtiroler Kinder uns mit unserer deutschen Sprache zurückziehen konnten. In gewisser Hinsicht bot uns auch die katholische Kirche Schutz: Der Religionsunterricht durfte nämlich auf Deutsch abgehalten werden, allerdings nicht in der Schule. Ich ging damals in die Volksschule „Regina Elena“ in der Bozner Sparkassenstraße – wo natürlich alles ausschließlich in italienischer Sprache ablief. Im Kapuziner-Kloster gab es hingegen einen kleinen Raum, in dem sich die deutschen Kinder einmal wöchentlich zum Katechismus-Unterricht trafen.
Außerdem gab es die Sonntagsmessen in der Bozner Pfarrkirche in deutscher Sprache, soweit nicht das Latein beim Hochamt vorherrschte. Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) mit seinen Reformen und der Einführung der Landessprachen in die Gottesdienste war ja noch in weiter Ferne. Und nicht zu vergessen ist die „Katholische Aktion“, die irgendwo in der Dr.-Streiter-Gasse im dritten Stock ihren Sitz hatte: größere Räumlichkeiten, wo wir Kinder „Theater“ spielen durften. […]“
Der obige Auszug stammt aus dem ersten Kapitel „(K)eine unbeschwerte Kindheit“ des Buches „Ohne Opfer keine Freiheit“, der Autobiografie des Musikers und Freiheitskämpfers Günther Andergassen, herausgegeben vom Südtiroler Schützenbund.
Andergassen, Günther: Ohne Opfer keine Freiheit. Autobiografie eines Musikers und Freiheitskämpfers. Neumarkt, Südtirol: Effekt! Buch. 2010.
ISBN: 978-88-9040546-4






