Das Geheimnis von Sankt Magdalena in Prazöll

Im Neuen Testament war Maria Magdalena eine Anhängerin Jesu, der ihr anfänglich „sieben Dämonen“ ausgetrieben hatte. Sie war weniger – wie oft behauptet – eine Prostituierte als wahrscheinlich eine phönizische Adelige. Nach seiner Auferstehung erschien Jesus zuerst Magdalena. Ihre weitere Rolle ist in der Theologie und in der Populärwissenschaft bis heute Gegenstand wildester Spekulationen.
Denn über ihr Leben ist, abgesehen von den biblischen Erwähnungen, wenig bekannt. Angebliche Legenden des Mittelalters stellten sich nicht selten als neuzeitliche Fälschungen heraus – so auch ihre Flucht von Palästina nach Gallien, ins heutige Südfrankreich, die auch Trivialromane und Kinofilme („Sakrileg“) der letzten Jahre aufgegriffen haben.
Ist ihre Überfahrt tatsächlich eine Erfindung? In der Kapelle von Sankt Magdalena findet sich ein Freskenzyklus über ihre Lebensgeschichte. Dessen Verfasser ist unbekannt, dürfte aber im oberitalienischen Raum Mitte des 14. Jahrhunderts seine Kunstfertigkeit erlernt haben. Das Kuriose daran: An einer Stelle an der Südwand zeigt ein Fresko, wie Maria Magdalena auf einem Schiff in einen Hafen einläuft. Ist die Legende also doch wahr? Und warum ist sie geflüchtet?
Ein zweiter Freskenzyklus im ungewöhnlich reich verzierten Kirchlein zeigt die Passion des Herrn von einem ebenso unbekannten Meister des 14. Jahrhunderts aus dem deutschsprachigen Raum. Eines der Fresken zeigt Jesu Festnahme im Garten Getsemani – eine Begebenheit aus der Gründonnerstagsliturgie. Eindeutig zu erkennen sind Petrus mit dem Schwert und Judas, der den Verrat begeht und Jesus im Angesicht der Tempelwache küsst.
Ganz links erscheint darauf eine weiblich anmutende Figur. Es könnte sich um den jugendlichen Johannes handeln, doch das lange, glatte Haar spricht eher für eine Frau. War Maria Magdalena also bis zuletzt an der Seite Jesu? Die Evangelien widersprechen sich teilweise selbst darüber, wer damals Zeuge zu Getsemani war – Magdalena wird darin nie erwähnt. Ein Code, wie er dem berühmten Mailänder „Abendmahl“ von Leonardo Da Vinci nachgesagt wird?
Seit alters her wurde die Kapelle in Zusammenhang mit dem Heiligen Gral gebracht. Er soll hierher auf dem Weg nach Westeuropa vorbeigekommen sein. Der Gral gehört zu den machtvollsten Mythen des Abendlandes: Eine Reliquie, die entweder das Blut Christi am Kreuz fasste oder – nach einer jüngeren Überlieferung – den Kelch vom letzten Abendmahl darstellt.
Die erste literarische Erwähnung des Grals findet sich beim altfranzösischen Schreiber Chrétien de Troyes, der um das Jahr 1190 eine „Erzählung vom Gral“ (Li Contes del Graal) verfasste, die in der christlich-keltischen Mythologie ihren Ursprung hatte. Das Rätsel um den Gral wird darin nicht gelüftet – der Verfasser starb noch, bevor er das Epos vollendet hatte.
Das Kirchlein von Sankt Magdalena auf der Anhöhe von Prazöll wird zum ersten Mal 1295 urkundlich erwähnt. Der Gralsmythos kam im 13. Jahrhundert, also einige Jahre zuvor, durch eine deutsche Bearbeitung der Verserzählung durch Wolfram von Eschenbach nach Tirol. Ist es Zufall, dass das Kirchlein seit damals Maria Magdalena geweiht ist und es am Aufenthaltsort des Grals stehen soll?
Obschon moderne Verschwörungstheorien die Vita der Magdalena umranken, so findet sich in der Kapelle das ein oder andere Indiz, das vielleicht der Schlüssel zum Mythos sein könnte, der weltweit ungebrochen Menschen in seinen Bann zieht.
Wer sich selbst ein Bild von dem sagenumwobenen Kirchlein in den Weinbergen von Bozen machen möchte, kann es bis 30. Oktober jeweils freitags und samstags von 16 bis 18 Uhr betreten. Es ist auf einem kurzweiligen Spaziergang von der Bozner Altstadt oder vom Stadtviertel Rentsch aus zu erreichen.






