Ein Fünftel der Südtiroler Familien ist armutsgefährdet

Dr. Michael Dauderstädt, ehemaliger Leiter des Bereichs ‘Wirtschafts- und Sozialpolitik‘, veranschaulicht eingangs die Ungleichverteilung der Einkommen in ganz Europa. Zwar hätte sich das Ungleichgewicht europaweit letzthin etwas verlangsamt bzw. konnte der Abwärtstrend gestoppt werden, dennoch dürften sich Politik und Gesellschaft nicht zurücklehnen.
Im Gegenteil: „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Menschen durch diese Studien zu einem Umdenken zu bewegen und sie ein Stück weit der Realität näher zu bringen“, betont der Moderator der Tagung, Lorenzo Vianini vom AFI.
Das „Worst-Case-Szenario“
Ein kurzer Blick richtete sich in der Tagung auch auf eine Studie, welche ein coronabedingtes „Worst-Case-Szenario“ aufzeigen sollte. Dieses hätte eintreffen können, wenn Staat und Land nicht versucht hätten, die finanzielle Krise „abzufedern“ und stattdessen der Pandemie, samt ihrer wirtschaftlichen Folgen, „freien Lauf“ gelassen hätten, berichtet Marta De Philippis, Senior Forscherin bei der Banca d’Italia.
Sie hat, zusammen mit Francesca Carta, die Auswirkungen der Sondermaßnahmen der italienischen Regierung auf die Einkommen untersucht.
Finanzielle Sonderhilfen waren ausschlaggebend
„Die Krise traf vor allem Familien, welche bereits an der Armutsgrenze lebten“, bestätigt De Philippis. Deshalb habe sich das Ungleichgewicht in der Gesellschaft bzw. zwischen den Familien nochmals mehr verstärkt.
Dass es zu keinem enormen Armuts-Anstieg gekommen sei, könne man darauf zurückführen, dass das Leid der Familien großteils durch die finanziellen Sonderhilfen abgefedert wurde, meint De Philippis. Trotzdem müsse man sich bewusst sein, dass dieser Zustand „nicht ewig“ aufrechterhalten werden kann. „Wir werden sehen wie es weitergehen wird, wenn diese Maßnahmen auslaufen.“ Die Armutsgefährdung sei derzeit noch stabil; dies könne sich aber ohne die zusätzlichen Fördermaßnahmen „schnell ändern“, sagt De Philippis.
Armut als Folge der Ungleichverteilung
Wie es um Südtirol bestellt ist, zeigten Anna Buratti und Luca Frigo vom Landesinstitut für Statistik ASTAT auf. In der Verteilung der Netto-Einkommen der Haushalte stehe Südtirol besser da als Italien insgesamt, aber schlechter als Österreich, Schweiz und Deutschland. Eine der Folgen der Ungleichverteilung ist die Armut.
Die relative Armut in Südtirol sei in den letzten 15 Jahren nicht wirklich angestiegen, stellte Luca Frigo fest. Jedoch habe sich das „Armutsrisiko“ erhöht: Ohne die finanziellen Hilfen wäre die Situation in Südtirol „deutlich schlimmer“, meint Frigo.
Der „Gender Pay Gap“-Effekt
Die Armutswahrscheinlichkeit steige vor allem bei alleinlebenden Senioren, Alleinerziehenden, Großfamilien, Nicht-EU-Bürgern, Arbeitslosen oder gering Beschäftigten. Für jede fünfte Familie in Südtirol sei Armut im weiteren Sinn Realität. Auffällig sei hierbei, dass die Armutswahrscheinlichkeit bei Alleinerziehenden und Frauen letzthin deutlich gestiegen ist: „Es ist eine Tatsache, dass Männer in den meisten Sektoren deutlich mehr verdienen als Frauen“, betont Marta De Philippis.
Das Phänomen nenne sich „Gender Pay Gap“ und bedeute im Klartext: „Weniger Lohn für Frauen.“ Die Ursachen für diesen Unterschied seien vielseitig und meist miteinander verbunden.
Ungleichheit bremst Gesellschaft und Wirtschaft
Südtirol hätte Handlungsmöglichkeiten um sicherzustellen, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht weiter auseinanderklaffe, sind sich die Referenten einig. „Da Ungleichheit die Gesellschaft und die Wirtschaft bremst, sind wir aufgefordert, die Verteilungsfrage nachhaltig zu lösen“, so AFI-Präsident Stefan Perini.
Wer wird die Schulden bezahlen?
Die öffentliche Hand werde weiterhin mit sozialen Grundleistungen einschreiten müssen, trotzdem bleibe offen, wer für die enormen Schulden aufkommen wird. „Ich glaube das Problem wird immer größer werden“, prophezeit Perini in diesem Zusammenhang.
„Auch wenn wir die Covid-Krise mit einem blauen Auge überstehen werden, so hat sich ein enormer Schuldenberg aufgebaut, wo wir heute noch nicht wissen, wer und vor allem wie wir diesen wieder abbauen werden“, sagt Perini und bedankt sich abschließend für die „gut organisierte“ Tagung.






