von apa 25.09.2017 01:59 Uhr

Rekordverlust für deutsche Regierungsparteien

Der steile Aufschwung der Rechtspopulisten bei der Bundestagswahl in Deutschland beschert der deutschen Politik eine historische Zeitenwende. Bundeskanzlerin Angela Merkel kann zwar voraussichtlich vier weitere Jahre regieren – aber nur mit dem größten Verlust in der Geschichte ihrer Union und möglicherweise dem Wagnis einer Jamaika-Koalition mit FDP und Grünen.

APA (AFP)

Die CDU/CSU ging trotz massiver Verluste klar als stärkste Kraft aus der deutschen Bundestagswahl hervor. Nach dem vorläufigen Ergebnis des Bundeswahlleiters kam sie am Sonntag auf 33,0 Prozent und verlor damit 8,5 Punkte im Vergleich zu 2013. Die SPD fuhr mit 20,5 Prozent (minus 5,2 Punkte) ihr historisch schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl ein. Der bisherige Koalitionspartner strebt in die Opposition.

Die Rechtspartei AfD triumphiert – erstmals seit 1961 sitzt nun eine rechtsnationale Partei im Parlament. Als Profiteur der Schlappe der Großen Koalition wird sie mit 12,6 Prozent drittstärkste Kraft. Die CSU will weiteren AfD-Erfolgen nun mit einem konsequenteren Rechts-Kurs begegnen.

Der FDP gelang mit 10,7 Prozent der Rückkehr in den Bundestag, aus dem sie 2013 geflogen war. Mit den ebenfalls vertretenen Grünen (8,9 Prozent) und Linken (9,2 Prozent) ergibt sich erstmals seit den 50er Jahren wieder ein Sechs-Fraktionen-Parlament.

Die Sitzverteilung sieht nach Angaben des Bundeswahlleiters so aus: CDU/CSU: 246 Mandate, SPD: 153, AfD: 94, FDP: 80, Linke: 69, Grüne: 67. Die Wahlbeteiligung betrug 76,2 Prozent (2013: 71,5).

Mit 709 Abgeordneten ist der Bundestag in der neuen Wahlperiode so groß wie nie zuvor. Bisher gehörten dem Parlament 630 Abgeordnete an. Den bislang größten Bundestag gab es 1994 mit 672 Abgeordneten. Ohne Überhang und Ausgleichsmandate hätte der Bundestag eigentlich nur 598 Sitze, je zur Hälfte Direkt- und Listenmandate.

Freidemokraten und Grüne zeigten sich prinzipiell gesprächsbereit über die Chancen eines im Bund noch nie erprobten schwarz-gelb-grünen Dreierbündnisses, sahen dafür aber große Hürden. Eine rechnerisch mögliche Fortsetzung der Großen Koalition schloss die SPD aus. “Es ist völlig klar, dass der Wählerauftrag an uns der der Opposition ist”, sagte Merkels Herausforderer, SPD-Chef Martin Schulz. Er will Parteivorsitzender bleiben und strebt nicht den Fraktionsvorsitz an.

Die Amtsinhaberin sagte, sie habe sich ein besseres Ergebnis erhofft, aber die Union habe ihre strategischen Ziele erreicht: Sie sei stärkste Kraft und habe den Auftrag zur Regierungsbildung. Spekulationen über eine mögliche Minderheitsregierung wies sie zurück. “Ich sehe das nicht. Ich habe die Absicht, dass wir zu einer stabilen Regierung in Deutschland kommen”, sagte Merkel in der “Berliner Runde” von ARD und ZDF.

Die Bildung eines Dreier-Bündnisses mit FDP und Grünen dürfte wegen deren teils gegensätzlichen Zielen aber nicht einfach werden. FDP-Chef Christian Lindner will eine Jamaika-Koalition von Inhalten abhängig machen. “Wir sind nicht zum Regieren verdammt, aber wir sind natürlich bereit, politische Verantwortung zu übernehmen”, sagte er in der “Berliner Runde”. Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt rechnete mit schwierigen Gesprächen: “Wir werden kein einfacher Partner sein.”

Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments und FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff wollte sich noch nicht auf eine Regierungsbeteiligung festlegen. “Wir werden Gespräche führen mit allen demokratischen Parteien, so wir denn angerufen werden”, sagte er. Das FDP-Wahlergebnis von 10,7 Prozent sei zwar “wunderbar”, aber kein Auftrag zur Regierungsbildung.

Auch angesichts dieser Schwierigkeiten appellierte die Union an die SPD, sich Gesprächen nicht zu verweigern. Der Einigungsdruck ist groß, denn von einer Neuwahl könnte die AfD noch stärker profitieren. Dass es vor der Wahl in Niedersachsen am 15. Oktober konkret wird, gilt als unwahrscheinlich.

Der Erfolg der AfD reiht sich ein in den seit Jahren zu beobachtenden Aufschwung von Rechtspopulisten in Europa. Merkel sagte, die Union wolle die Wähler der AfD zurückgewinnen “durch Lösung von Problemen, durch Aufnehmen ihrer Sorgen, auch ihrer Ängste zum Teil, aber eben vor allen Dingen durch gute Politik”. Schulz wies ihr eine “große Verantwortung” für den Aufstieg der Rechtspopulisten zu: “Die systematische Verweigerung von Politik hat ein Vakuum entstehen lassen, das die AfD teilweise geschickt gefüllt hat.”

Vor allem in Ostdeutschland ist die AfD stark. Dort ist sie mit 20,5 Prozent (laut ARD) zweitstärkste Kraft, in Sachsen mit 27 sogar stärkste; im Westen kommt sie auf 10,7 Prozent (ARD). Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn klagte: “70 Jahre nach Kriegsende sitzen wieder Neonazis im Bundestag.” Der Zentralrat der Juden sieht Deutschland vor der größten demokratischen Herausforderung seit 1949. In Berlin vor der Wahlparty der AfD sowie in anderen Städten gab es Demonstrationen gegen die Partei mit jeweils mehreren Hundert Teilnehmern.

AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland machte eine Kampfansage an die künftige Bundesregierung: “Sie kann sich warm anziehen. Wir werden sie jagen”, sagte er. “Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.”

Die AfD hatte es in der Endphase des Wahlkampfs immer wieder geschafft, mit provokanten Äußerungen Aufmerksamkeit zu erregen, etwa zur Flüchtlingspolitik. Nach Expertenansicht war der Wahlkampf von Furcht geprägt. 70 Prozent der Befragten äußerten laut Infratest dimap die Angst, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet, 60 Prozent, dass die Kriminalität zunimmt, 38 Prozent, dass zu “viele Fremde” kommen. Merkel punktete der Forschungsgruppe Wahlen zufolge damit, dass sie Stabilität und Führungsstärke vermittelte.

Wegen des AfD-Ergebnisses könnte der Unionsstreit über Merkels Flüchtlingspolitik wieder aufflammen, zumal die CSU in Bayern auf 38,8 Prozent gefallen ist (2013: 49,3). CSU-Chef Horst Seehofer hat die von Merkel abgelehnte Obergrenze für den Flüchtlingszuzug einst als Bedingung für eine Koalitionsbeteiligung genannt. Es komme nun darauf an, die offene Flanke auf der rechten Seite zu schließen, sagte er wohl auch mit Blick auf die Landtagswahl 2018, “am besten durch eine Politik, die gewährleistet, dass Deutschland Deutschland bleibt.”

Dem Vernehmen nach wurde in CDU-Runden erneut Unmut über Merkels Flüchtlingskurs und das lange Ignorieren der AfD angesprochen. Dort wurde auch über Finanzminister Wolfgang Schäuble und dessen mögliche Nachfolge von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) gesprochen. Mit seiner langen Parlamentserfahrung bringe er die Voraussetzung mit, hitzige Debatten mit der AfD im Griff zu behalten.

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