von red 29.11.2014 17:17 Uhr

Der Stier im Gemüsebeet. Oder: Unser Tourismus zwischen Authentizität und Anbiederung

Anlässlich des heutigen Winter-Ski-Openings der Sextner Dolomiten AG unter dem Motto "Ein Traum ist wahr geworden! Feiern wir gemeinsam!" analysiert Unsertirol24 den heimischen Tourismus an seinem gegenwärtigen Wendepunkt.
Baustelle der Skiverbindung Helm-Rotwand. Photo: UT24

Fragen nach dem Temperaturrekord im heurigen November

Die turbulenten und ungewöhnlichen Wetterbedingungen dieses Herbstes mit seinen Rekordtemperaturen, sowie die laufend beunruhigenden Nachrichten aus Politik und Wirtschaft lassen erahnen, dass der Fremdenverkehr in ganz Tirol großen Herausforderungen entgegengeht.
Schneit es gar nicht oder schneit es zu viel, regnet es wochenlang im Sommer, kommen die Gäste noch oder müssen sie sparen und legen den Urlaub auf Eis?
Was sucht der abgekämpfte mittel- oder südeuropäische Tourist, meist aus großen Ballungszentren kommend, im „Land im Gebirge?“

“Fun & Action” versus “Ruhe und Entspannung”

„Fun & Action“ sagen die einen, „Ruhe und Entspannung“ sagen die anderen. Begriffe wie „sanfter Tourismus“ prallen auf millionenschwere Liftbauprogramme.
Spricht man mit unseren Besuchern, fällt oftmals der Begriff „Authentizität“, auf deutsch: Echtheit.
Damit verbinden viele eine von Herzen kommende Gastfreundschaft, das Gefühl, willkommen zu sein und mit den Tirolern für kurze Zeit das Privileg zu teilen, in einem der schönsten Länder der Welt leben zu dürfen.

Dieses Gefühl ist in den Hochburgen des Fremdenverkehrs freilich oft schon vor langer Zeit verloren gegangen.

Wie echt ist unsere Gastfreundschaft?

Gäste schütteln zunehmend den Kopf beim Anblick von Pistenschneisen und Betonungetümen, fühlen sich durch das aufgesetzte Lächeln ihrer Gastgeber veräppelt, durch die Schutzhüttenmafia ausgeplündert.

Nur weil die Bedienung Kitsch-Dirndl oder Lederhosen trägt, hat dies noch lange nichts mit Echtheit und dem Leben der eigenen Kultur zu tun.

Authentizität an der Peripherie

Will man das „echte“ Tirol erleben, empfiehlt es sich, an die Peripherie zu gehen: Osttirol oder der Vinschgau bieten sich hierbei an. Gerade dort erwacht nach Jahrzehnten des Gefühls der Rückständigkeit ein neues Selbstbewusstsein und eine Besinnung auf die eigenen Stärken. „Villgrater Natur“ oder die „Kornkammer Vinschgau“ sind nur einige Stichworte dafür.

Selbstverständlich spricht man in Osttirol mittlerweile auch italienisch, das wissen die Gäste aus dem Süden und fahren zunehmend gleich weiter, um statt im „Italo-Tirol“, im „echten“ Tirol Urlaub zu machen.

Zauberwort “Zusammenschluss”

Eines der größten und umstrittensten Liftbauprogramme im Tirol dieses Jahres wurde im Hochpustertal von der Sextner Dolomiten AG verwirklicht. Nach jahrelangem Rechtsstreit durften die Betreiber im Frühjahr endlich aufatmen, mit ihnen die lokale Baubranche. Die Arbeiten sind nach wenigen Monaten praktisch beendet und nun fehlt nur noch der Schnee.

Ruhig ist es mittlerweile bei den Pisten-Gegnern. Die wenigen, die sich trauten, öffentlich Stellung zu beziehen, wurden gerne als „Hassprediger“ betitelt, teilweise direkt bedroht oder sind durch das lokale Netz gegenseitiger Abhängigkeiten zum Schweigen gebracht worden.

Spagat zwischen Subvention und Einsparung

Ein bitterer Nachgeschmack bleibt unter den Bürgern der ganzen Region: Während in das Projekt Millionen an Steuergeldern geflossen sein sollen, wird das nahegelegene öffentliche Krankenhaus Innichen aus „Kostengründen“ kaputtgespart. Aber was macht das schon?

Wer betucht genug ist, kann sich im Krankheitsfall ja ohne Probleme eine sündhaft teure Privatbehandlung leisten…

Architektur im Gebirge

Derweil dürfen diejenigen unter uns, welche auf der Pustertaler-Straße zwischen Innichen und Sillian unterwegs sind, die neuen Ungetüme des Bahnhofs und Ski-Servicezentrums in Vierschach bewundern und sich fragen, ob hier die Verantwortlichen überhaupt ein landschaftsplanerisches Konzept im Sinne hatten. “Bunker”, wie letzteres benannt wurde, ist ein gut gewählter Begriff.

Sollen solche Gebäude das Bild vermitteln, welches wir von unserem Land, über unsere Gäste, in die Welt hinaustragen wollen?

Da fragt sich der Laie, wie lange man eigentlich Architektur studieren muss, um auch noch den letzten Funken von gutem Geschmack und Einfühlungsvermögen zu verlieren…

Touristiker sind keine Historiker

Freilich experimentieren die Touristiker im Hochpustertal nicht nur auf dem Felde der Architektur, auch als Historiker sind sie tätig und üben sich fleißig im Übersetzen altgewachsener, Tiroler Flurnamen, damit sich unsere Gäste aus dem Süden nicht allzu zu fremd, und unsere Gäste aus dem Norden schon umgeben von mediterranem Flair fühlen können.

Die „Gazzetta delle Dolomiti“ ist eine dieser Stilblüten, freilich unübertroffen ist der „Orto del Toro“, wie der Stiergarten, Angelpunkt der neuen Verbindung Helm-Rotwand, neuerdings heißt. Nicht einmal der faschistische Namenserfinder Ettore Tolomei wagte sich an diesen Namen heran. Herausgekommen ist so etwas wie „des Stiers Gemüsebeet“.

Was bringt die Zukunft?

Für die Zukunft unseres Tourismus gibt es in Zeiten des Umbruchs wohl kein Patentrezept. Jeder Schritt, den wir planen, muss vor dem Hintergrund unserer globalen Verantwortung betrachtet werden. “Größer, schneller weiter” ist als Antwort auf eine sich rapide verändernde Wirtschaft, ein zunehmend unberechenbares Klima und eine alternde Gesellschaft wohl etwas zu einfach gedacht…

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