Ein Blog von

Georg Dekas

01.05.2019

Sexueller Missbrauch* und Schuld

Immer wieder gerät die katholische Kirche in den Sturm medialer Empörung über tatsächliche und angebliche sexuelle Missbrauchsfälle. Beim Lesen gewisser Schlagzeilen und Beiträge entsteht der Eindruck, die Kirchenleute seien ein einziger Haufen hassenswerter, schwuler Päderasten. Die Scheinwerfer, die auf die Kirche geworfen werden, lassen jedoch völlig im Dunkeln, wie es rundherum um die moderne westliche Gesellschaft bestellt ist.

APA (dpa)

Sexverbote sind nicht der Grund für erhöhten Missbrauch

Als Ursache für verbotenen Sex in der Kirche wird häufig der Zölibat genannt – eine römisch-katholische Spezialität und unabdingbare Verpflichtung für geweihte Priester. Zölibat bedeutet Ehelosigkeit.  Die damit geforderte sexuelle Enthaltsamkeit betrifft das Zeugen von Nachkommen. Nicht mehr, nicht weniger. Damit ist klar, dass sogar theoretisch und erst recht praktisch noch Raum für Sex da ist. Die Schwänke des Mittelalters sind entsprechend voll von lüsternen Mönchen und Nonnen, Priestern und anderen kirchlichen Würdenträgern. Der Zölibat, den es seit den Anfängen der Kirche gibt, war und ist immer noch eine hauptsächlich rechtliche Schranke. Kinder aus einer Verbindung mit Kirchenleuten haben keinen Anspruch auf Erbschaft, Partner keinen Anspruch auf Versorgung. Mit dieser Bestimmung hält die Kirche ihren Besitz zusammen.

Die Volksmeinung hingegen versteht den Zölibat als Verpflichtung zur vollständigen Sexlosigkeit. Diese Meinung hat mit ihren Grund in der sehr viel strenger gewordenen Sexualmoral der Kirche, die ab 1500 im Zuge der Gegenreformation propagiert wurde (was auch mit dem Ausbreiten der Syphilis zu tun hat, die von Amerika eingeschleppt worden war).

Entsprechend einfach ist das Denkmodell zur Rolle des Zölibats am sexuellen Missbrauch in der Kirche: Triebe brechen sich Bahn – wird der natürliche Ablauf der Fleischeslust behindert, dann sucht sich der Lusttrieb früher oder später Ersatzwege – egal welche, auch missbräuchliche.

Von daher kommt die Forderung, katholische Kleriker und Ordensleute heiraten zu lassen. Die Ehe wird hier gleichsam als eine vorbeugende Therapie gesehen. Es würden, um es drastisch zu sagen, die Säfte in die richtige Richtung fließen und der Missbrauch in der Kirche würde stark zurückgehen. Doch dieses einfache mechanische Modell geht an der modernen Wirklichkeit vorbei. (Unabhängig davon wäre es zu begrüßen, dass katholische Kirchenleute heiraten dürften).

Sexueller Missbrauch ist ein Merkmal der „offenen Gesellschaft“

Spätestens seit der massiven Verbreitung von libertärem Gedankengut allgemein und der Pornographie übers Internet im Besonderen wird nicht nur erleuchteten Kirchenoberhäuptern, sondern auch gewöhnlichen, aber aufmerksam und unvoreingenommen Beobachtenden klar, dass missbräuchliche und abartige sexuelle Praktiken quer durch alle Schichten der Gesellschaft zunehmen und nicht abnehmen. Die „Trasgressione“ wie die Italiener sagen, also die Lust am Übertreten der gewöhnlichen und gewohnten sexuellen Befriedigung, die wächst unaufhaltsam ohne eine letzte Grenze, je mehr Freiheiten und Möglichkeiten der Lustbefriedigung es gibt.

Die Folgen sind unter anderem in der schwarzen Chronik auszumachen. Wobei die eigentlichen Ursachen von Todesfällen und Morden meist unaufgedeckt im Hintergrund bleiben. Ja, wenn es ein Plastiksackerl war, dann darf die Presse noch Vermutungen anstellen. Aber die gewaltigen, zuerst schöpferischen und danach zerstörerischen Kräfte, Praktiken und Verhältnisse hinter vielen Beziehungstaten – sie alle fallen heute noch unter das Gesetz des Schweigens. Würde die „offene Gesellschaft“ auch hier offen reden, dann würde es sich herausstellen, dass hinter manchem Frauenmord und hinter manchem Selbstmord der Sexteufel seine Hand im Spiel hatte – das ist nur die metaphorische Umschreibung für das praktizierte oder latent gelebte Tabu Inzest, für Pädophilie, Sodomie, für sexuelle Erpressung, Nötigung, Ausbeutung usw. In diesen so intim naheliegenden Abgründen stehen sich Männer und Frauen in Nichts nach. Am jähen oder späteren Ende aber gibt es da immer jemanden, der als gekränkter und geschwächter Verlierer – oder Verliererin – zum letzten Mittel greift.

Es sind diese menschlich erschütternden und Leid erzeugenden Randfolgen der großen Lustmaschine, die seit der Erfindung der Anti-Baby-Pille und des Gummi-Präservativs immer schneller läuft, welche die Kirche mit ihrer Jahrtausende alten Erfahrung mit dem Laster seit jeher dazu bewogen hat, dem Sex Grenzen zu setzen – teilweise recht enge. Und es war so ganz nebenbei nicht die Kirche allein. Die Prüderie des viktorianischen England ist ja sprichwörtlich geworden – sie kann als Überzeichnung einer bürgerlichen Gesellschaft gelten, die mit und nach der Kirche erkannt hat, dass der Eros die Gewalt einer atomaren Kernspaltung in sich trägt, und dass die Reaktoren, in denen die Kernspaltung des Eros stattfindet, genauso stark ummantelt und sicher sein müssen wie die in Atomkraftwerken, will man den GAU verhindern.

Der sexuelle Missbrauch gehört aber nicht nur wegen der freien und entfesselten Sexualität zum Merkmal der „offenen Gesellschaft“, sondern auch deshalb, weil der auf Humanismus, Aufklärung, Menschenrechte und Feminismus begründete Zeitgeist mit seinen Rechtseinrichtungen die Standards für richtiges und falsches Verhalten immer höher schraubt. Entsprechend größer ist die allgemeine Empfindsamkeit – und die juridische Klagbarkeit mit Aussicht auf Gegenleistung.

Beide Strömungen zusammen – die schrankenlose sexuelle Freiheit und die hochgezüchtete laizistische Moral – bewirken so etwas wie eine bipolare Störung. Ein sehr grobes Bild dazu: Eine Frau kann sich kleiden und benehmen wie eine Hure und zugleich den Respekt für eine keusche Nonne einfordern. Damit kommt die einfach gestrickte Volksseele nicht zu Rande (und noch weniger die jungen afrikanischen Einwanderer).

Missbrauch in der Kirche – fast schon eine optische Täuschung

Vor dem Hintergrund des Rechtsbewusstseins und der sexuellen Freizügigkeit der modernen Gesellschaft werden die (nicht wenigen) Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche, wenn sie in den Medien landen, fast zu einer optischen Täuschung (technisch gesagt: eine mediale Idiosynkrasie). Warum dies? Weil es daneben den verübten oder latenten Missbrauch in privaten Gemeinschaften (Familien, Vereine, Lebenspartnerschaften usw.) gibt, der wegen der gegebenen emotionalen und existentiellen Abhängigkeiten nie das Licht der Öffentlichkeit und der Gerichtssäle erblickt.

Leichter als diese “privaten” dringen jene Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit, in denen Außenseiter, Fremde, aber auch  institutionelle Rollenträger verwickelt sind. Und sogar hier scheint es sehr schwer zu sein, die Fesseln der Abhängigkeit abzustreifen. Das sehen wir deutlich an der #metoo-Kampagne (Asia Argento vs. Harvey Weinstein), aber auch an den Anklagen gegen Priester, Bischöfe und Nonnen, wo das Outing oder die Beschuldigungen erst im Abstand von 20 Jahren und mehr erfolgen.

Schließlich gibt es auch noch den nie verübten, aber aus niederen Beweggründen behaupteten und zur Anzeige gebrachten Missbrauch, wie er allenthalben vorkommt, aber von dem die Institution Kirche zunehmend betroffen ist, weil hier die Chancen höher stehen, eine Entschädigung für erlittenes Unrecht zu bekommen und zugleich das Risiko eines emotionalen Backlash deutlich weniger groß ist als in den Familien und in den Geschäftsbeziehungen.

Solange die sexuellen Missbräuche in den Familien, im Business, beim Militär, in den Schulen, Krankenhäusern und Gefängnissen unter der Regie von Staatsdienern oder Privaten nicht mit derselben (medialen) Vehemenz offengelegt und sanktioniert werden, stechen in der öffentlichen Meinung die Missbrauchsfälle in religiösen Einrichtungen unangemessen heraus, so dass eine faire Einschätzung der Tatsachen kaum möglich ist.

 

*Zur Begriffsbestimmung:

Um nicht aneinander vorbeizureden: Als sexueller Missbrauch gilt hier erzwungener oder erschlichener Sex, insbesondere Sex mit Schutzbefohlenen (auch einvernehmlicher), Sex mit Menschen im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit, erzwungener Sex mit Menschen im Abhängigkeitsverhältnis, Sex mit Tieren. Konservative rechnen gleichgeschlechtlichen Sex ebenfalls dem Missbrauch zu.

 

 

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