Ein Blog von

Georg Dekas

31.01.2020

Brexit, Südtirol, Europa

Ich kann die Hoffnung nicht teilen, dass die EU sich unter dem Eindruck der abtrünnigen Briten in eine flauschige „große Gemeinschaft“ freier regionaler Staaten umwandelt. Die Union arbeitet im Notbetrieb. Um das Schlimmste zu verhindern, sieht sich Brüssel außerstande, das Gute zu tun. Aus diesem Grund sind die guten alten Nationalstaaten noch nicht überholt und der „Regionalismus“ noch längst nicht in der Lage, ihr Erbe anzutreten. Was es zu bekämpfen gilt, das ist der Zentralismus, die Vorstufe und das Begleitgepäck jeder Diktatur. Wer den Brexit in dieser Optik sieht, kann ihm nur Gutes abgewinnen – langfristig auch für Schotten und Südtiroler.       

APA (AFP)

Die Schützen schreiben zum Brexit am 31. Jänner 2020 diese Pressemitteilung “Schicksal der Schotten als Warnung für Südtirol“. Man liest: “Der … Ausspruch ‚Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt, wird beides verlieren‘ wurde für die Schotten bittere Wirklichkeit.“ Und: „Mehr Regionalität … kann … die Menschen von den Vorteilen einer großen Gemeinschaft überzeugen. Bleibt die EU aber weiterhin lediglich ein urbürokratischer Zusammenschluss von Nationalstaaten, dann könnte es auch für Südtirol irgendwann ein böses Erwachen geben“.

Nun, für Südtirol hat es bereits zweimal ein böses Erwachen gegeben. Da war 1918 einmal die Zerreißung des Landes nach dem verlorenen 1. Weltkrieg. Nicht einmal 20 Jahre später folgte der Verrat Hitlers samt dem Versuch der ethnischen Säuberung durch Mussolini. Das ist es des bösen Erwachens genug. Sollte Italien – was es zu seinem Schaden niemals tun wird – aus der EU austreten, dann nur, um noch mehr Vorteile zu melken als schon jetzt. Sicher, unsere Nabelschnur nach Norden würde wieder stärker zusammengezwickt – aber nicht mehr, als das auch schon vor dem EU-Beitritt Österreichs und der Einführung des Euro der Fall war. Der Tiroler Patriotismus, das wage ich zu behaupten, war damals größer und stärker als heute, der internationale Beistand für Südtirol auch (Dank an die Roten Kreisky und Saragat). Also von daher droht keine Gefahr. 

Das Übel ist die Brüsseler EU, wie das ganz klar die Briten und zum Teil auch die Schützen sehen. Nur kann ich weder den Optimismus noch die Hoffnung des Südtiroler Schützenbunds teilen, dass „dieser urbürokratische Zusammenschluss von Nationalstaaten“ sich unter dem Eindruck der abtrünnigen Briten in eine flauschige „große Gemeinschaft“ freier regionaler und gar nicht national denkender Staaten umwandeln möchte.      

Die EU hat vor dem Schottland-Votum 2014 unmissverständlich klargemacht, dass sie nicht daran denke, ein unabhängiges Schottland zu unterstützen. Und das, obwohl sogar London, also die Engländer, den Schotten die Chance auf Freiheit gegeben hatten. Herwärts, sagen die Tiroler. Die Schotten stimmten daraufhin mehrheitlich für die bestehende Staatlichkeit im Vereinigten Königreich. Angesichts der Drohungen von wirtschaftlichen Großgebilden – auch vieler kontinentaler Regierungen, Konzerne und Banken – sind die Schotten auf Nummer Sicher gegangen, was ihnen niemand verdenken kann.

Die Verantwortung trifft also nicht die Schotten und nicht den Rest der Briten, sondern die illiberalen Brüsseler Spitzen. Die gleiche ablehnende Haltung hat die EU dann auch 2018 in der Katalonien-Krise eingenommen. Die Doktrin der EU ist das Beharren auf die Übermacht der großen Flächenstaaten, allgemein das Be- und Verharren im Bestehenden (nicht nur der Nationalstaaten, auch mit Nato und dem Rest). Wir haben eine latente Feindseligkeit der EU gesehen bei den Versuchen, auf 100% demokratische und friedliche Art neue Staaten im Westen zu gründen, aber im Gegensatz dazu weite, ganz weite Ärmel bei der Aufnahme neuer Unionsmitglieder aus den Armenhäusern des Ostens. 

Brüssel will keine neuen Staatsgründungen auf den Gebieten ihrer heutigen Mitgliedsstaaten. Jedenfalls im Westen, denn im Osten hat Brüssel stets freundlich genickt zu Staatsgründungen und Staatsteilungen. Dieses Janusgesicht der EU erklärt sich zum Teil damit, dass nach dem Zerfall der kommunistischen Staatsgebilde alles gutgeheißen wurde, was die Länder im Osten dem Einfluss Moskaus entzog und für die Einrichtung von Marktwirtschaft und parlamentarischer Demokratie förderlich war. Deshalb durften auch lange nach 1989 neue und vorwiegend kleine Staaten entstehen wie Serbien, Bosnien, Kroatien, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Montenegro-Herzegowina, ja selbst ein Mini-Staat wie Kosovo, alle durchaus mit Gewinn für Leute, Wirtschaft und Demokratie. Warum sollte das gleiche Rezept nicht auch im Westen gelten? 

Der Hintergrund ist, dass zwei der Gründungsmitglieder der Union, Frankreich und Italien, einen streng zentralistischen Staat mit nationalistischem Ideen-Überbau und einer entsprechend handelnden Führung haben. Dieser Zentralstaat ist die Klammer und der Eisenring, um eine Lebenswirklichkeit mit grundverschiedenen Völkern, Landesteilen und Mentalitäten einzufassen. Diese beiden Gründungsstaaten der EU fürchten nichts mehr als eine Föderalisierung Europas nach dem Vorbild des Vereinigten Königreichs, der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Österreich, der Schweizer Eidgenossenschaft. Selbst das aus dem Franco-Alptraum erlöste Königreich Spanien hat seit 1976 viel mehr für die Föderalisierung seiner Nationalitäten und Regionen getan als ein Italien, in dem der Faschismus bereits volles ein Menschenalter zurückliegt. Und die Deutschen? Diese armen, unglaublich tüchtigen, aber für ewig ans Kreuz genagelten Büßer müssen dienen, blechen und auslöffeln, was das Zeug hält. Das alles sind keine guten Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung der „Großen Gemeinschaft“.    

Gerade für eine zur Supranationalität verpflichtete Europäische Union, getragen von starken und großen Flächenstaaten, wäre es nicht nur verkraftbar, sondern auch vorteilhaft, die Geburt oder die Wiederauferstehung kleinerer staatlicher Gebilde zu unterstützen. Wer sich einmal die Rechnung von den Zwergen und den Riesen unter den Staaten in Europa macht, kommt drauf, dass es weit mehr Zwerge als Riesen gibt, und dass die Zwerge eine hervorragende wirtschaftliche, politische, kulturelle und technologische Performance haben – gleich ob in oder außerhalb der EU.

Da sind einmal die Super-Zwerge Andorra, Monaco, Malta, Vatikan, San Marino, Liechtenstein, Luxemburg (gar nicht zu reden von den „Winzlingen“ Färöer, Gibraltar, Guernsey, Isle of Man, Jersey, Åland). Dann gibt es echte Potenz-Zwerge wie Holland, Belgien, Schweiz, Österreich, Irland und die fleißigen baltischen Staaten Lettland, Estland, Litauen. Die slawischen Länder Slowenien, Tschechien und Slowakei sind kulturell und industriell solides Mitteleuropa. Die Minus-Zwerge Kosovo und Nordmazedonien schließen den Kreis der kleineren Flächenstaaten ab. Danach kommen immer noch nicht sehr große Staaten mit guter bis aufstrebender Kraft wie Portugal, Kroatien, Bosnien, Serbien, Albanien, und die auf dem Weg der Besserung befindlichen Staaten Griechenland, Bulgarien. Es glänzen die hervorragenden Mittelgewichtler aus dem weiträumigen, aber bevölkerungsarmen Skandinavien: Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, Island. Auf der „kleinen Seite Europas“ haben wir somit nicht weniger als 32 Staaten und 5 Sondergebiete. Da würden ein paar neue Freistaaten wie Schottland, Flandern, Katalonien oder Tirol ausgezeichnet dazu passen.    

Doch Europa hat darüber hinaus noch große Flächenstaaten, darunter ein paar „Patienten“, die das Ganze nicht leichter machen. Zu den großen Flächenstaaten mit einem noch ungewissem oder noch nicht ausgereiften politischen oder wirtschaftlichen Status zählen Weißrussland, die Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Moldawien – aber auch die Schwergewichte Polen und Ungarn. Die Großflächenstaaten Weißrussland und Ukraine können eines Tages – sofern sie nicht in die Sphäre Russlands zurückfallen – zusammen mit Polen und Ungarn einen eigenen und mächtigen Block jenseits deutscher Interessen bilden, während Albanien, Nordmazedonien, Bulgarien, Rumänien und Moldawien die östliche Konterpartie für Italien abgeben. Dabei haben wir noch nicht von der Türkei gesprochen und von Russland. Erst jetzt kommen die großen und klassischen Kaliber Europas: Es sind Frankreich, Spanien, Deutschland, UK, Italien – mit den Polen und Ungarn im Schlepptau – 7 Staaten von 47. 

Und wie es der Teufel will, sehen wir mit dem Fernrohr der Geschichte bei den Großen der EU mit UK und France im Westen zwei Staaten der Alliierten, in der Mitte drei Staaten mit akuter Faschismusgeschichte und im Osten zwei Staaten aus der Sowjetära. Und wenn wir sehen wollen, wo die Musik spielt, dann bleiben überhaupt nur mehr 2 Staaten übrig: Frankreich und Deutschland. Im Osten Europas lauert der Russische Bär, von ganz Ferne steigt der chinesische Drache auf, und im Westen beäugt der Yankee-Adler argwöhnisch, dass ihm zwei Weltkriegssiege nicht aus der Hand gleiten. Wer immer Europa regiert, sieht dieses Gesamtbild. Und nachdem der Selbsterhalt um fast jeden Preis für alle Lebewesen gilt, auch für die von Lebewesen gebauten und bewohnten Organisationen, schaut die EU zu allererst drauf, in diesem Kräftespiel nicht unterzugehen. Mit einem Wort: Um das Schlimmste zu verhindern, sieht sich Brüssel außerstande, das Gute zu tun.

Wir alle wurden und sind Zeugen, dass die EU politisch ziemlich impotent ist. Die EU war machtlos, als der Völkerkrieg im vormaligen Jugoslawien tobte, die EU ist machtlos im Nahen Osten, in Syrien und Libyen. Sie vermag nicht einmal ein paar hunderttausend Migranten aus Afrika, Afghanistan und Syrien ordentlich auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen. Die EU ist eigentlich nur eine enorme Geldpumpe, ein Umverteilungsventilator, eine riesige Politmaschine, die von den Deutschen und Holländern gespeist wird und den Auftrag der USA erfüllen muss, die Ostflanke gegen Russland zu „clearen“. Deshalb die „Hilfen“ an Griechenland, an die Türkei, die Ukraine, die selbstschädigenden Sanktionen gegen Russland, die Nato-Manöver im Baltikum. Um von seiner Ohnmacht und geopolitischen Dienstbarkeit abzulenken, träumt Brüssel vom billionenschweren „Green Deal“. Dabei ist man gerade noch imstande, die Gemeinschaftswährung Euro mehr schlecht als recht am Leben zu halten. Was in aller Welt soll da Schottland kümmern? Oder das reiche Katalonien? Oder das noch reichere Flandern und Südtirol? 

Um durchblicken zu können, gilt es, Begriffe und Bezeichnungen zu klären. Das „Böse“ in der EU sind nicht die Nationalstaaten an sich. Holland ist einer, Schweden auch, Österreich erst recht. Auch ein Freistaat Südtirol oder eine Republik Catalunyia würden solche. Die Nationenformel ist bis auf wenige Ausnahmen immer noch eine Erfolgsformel. Ganz etwas anderes ist der Nationalismus, der auf Überlegenheit und Abschottung aus ist, eine zentrale und elitäre Führung des Staates durch eine Sprache, eine Partei, ein System oder einen Führermenschen verlangt und das alles im großen Stil. Nation und Nationalismus gehören so wenig zusammen wie ein lustiger Silvesterkracher und eine alles vernichtende Atomrakete. 

Für Tirol, Schottland, Katalonien, Flandern und alle weiteren hoffnungsvollen Staatssubjekte arbeiten heißt, Europa aus möglichst vielen eigenständigen Staaten bestehen lassen, die über sich nur eine hauchdünne Holding haben zur besseren Koordination ziviler Angelegenheiten und zur Begünstigung notwendiger Kriegs- und Friedensbündnisse. Die großen Flächenstaaten müssen durchwegs in föderal untergliederte, ebenso möglichst eigenständige Einheiten aufgebrochen werden, wo durchaus das gute nationale Prinzip des „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ greifen darf. Es muss schließlich unter diesen Einheiten möglichst viel Wettbewerb und Verschiedenheit geben, nicht eine  kolossale Einförmigkeit. Diesem Prinzip sollte auch die Währungs- und Steuerpolitik folgen. Es kann nicht sein, dass sich Deutschland verausgabt, nur um eine abstrakte Gemeinschaftswährung zu halten, „whatever it takes“. Dieser Weg führt in die Katastrophe und zur inneren Aushöhlung Europas.

Somit sind die guten alten Nationalstaaten noch längst nicht schrottreif und es ist der „Regionalismus“ noch längst nicht in der Lage, das Erbe der Nationalstaaten anzutreten. Was es zu bekämpfen gilt, das ist der Zentralismus – die Vorstufe und das Begleitgepäck jeder Diktatur. Wer den Brexit in dieser Optik sieht, kann ihm nur Gutes abgewinnen – langfristig auch für Schotten und Südtiroler.     

 

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