von red 05.09.2024 13:18 Uhr

78 Jahre Pariser Vertrag: Eine „Magna Charta“ ist es nicht

Am 5. September 1946 wurde das Gruber-De Gasperi-Abkommen, auch als Pariser Vertrag bekannt, unterzeichnet. Dieses Abkommen, oft als „Magna Charta für Südtirol“ gefeiert, ist in der Realität weit davon entfernt, eine solch bedeutende Charta für die Südtiroler Bevölkerung zu sein. Mit seinen lediglich 33 Zeilen war es ein Minimalabkommen, das die Hoffnungen der Südtiroler auf eine Selbstverwaltung enttäuschte. Es ist daher angebracht, das Abkommen kritisch zu hinterfragen und dessen Entstehung und Auswirkungen genauer zu beleuchten.

Pariser Vertrag Gruber-Degasperi - Bild: Land Südtirol

Entstehung der Südtirolfrage: Vom Geheimvertrag von London bis zur Unterdrückung

Die Wurzeln der Südtirolfrage reichen zurück bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Im April 1915 schloss das neutrale Italien mit den Entente-Mächten den Geheimvertrag von London, ein moralisch fragwürdiges Abkommen, das Italien nach Kriegsende große Gebiete, darunter auch Südtirol, zusicherte. Die Aufteilung der ehemaligen habsburgischen Kronländer Tirols, insbesondere die Abtrennung Südtirols vom nördlichen Tirol, wurde 1919 im Vertrag von Saint-Germain festgeschrieben. Diese Aufteilung erfolgte gegen den Willen der betroffenen Bevölkerung und ohne die Berücksichtigung des von US-Präsident Woodrow Wilson propagierten Selbstbestimmungsrechts der Völker.

Mit der Machtübernahme Mussolinis 1922 begann die systematische Italianisierung Südtirols. Die Option zur Umsiedlung der Südtiroler nach Deutschland im Jahr 1939, ausgehandelt zwischen Mussolini und Hitler, markierte einen weiteren Höhepunkt der Unterdrückung. Viele Südtiroler mussten sich entscheiden, entweder in ihre Heimat zurückzukehren oder nach Deutschland auszuwandern. Der faschistische Druck und die politische Unsicherheit prägten das Leben in der Region bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Der Pariser Vertrag von 1946: Ein Dokument der Schwäche

Am 5. September 1946 unterzeichneten der österreichische Außenminister Karl Gruber und sein italienischer Amtskollege Alcide De Gasperi das Pariser Abkommen. Der Vertrag war das Resultat einer unsteten Entwicklung und eines komplexen geopolitischen Umfelds nach dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings handelte es sich bei dem hastig formulierten Text um ein Dokument, das mehr Fragen aufwarf, als es beantwortete.

Der spätere österreichische Außenminister Bruno Kreisky bezeichnete das Abkommen als „einmalige österreichische Schwäche“. In der Tat befand sich Österreich nach dem Krieg in einer außenpolitisch schwachen Position und war noch stark von der sowjetischen Besatzung beeinflusst. Gruber, der mit dem Ziel nach Paris gereist war, eine vorteilhafte Lösung für Südtirol zu erzielen, war mit der Aufgabe überfordert. De Gasperi, ein erfahrener und gewiefter Politiker, nutzte Grubers Unsicherheit geschickt aus. Das Ergebnis war ein Vertrag, der Österreich und vor allem Südtirol wenig bot, aber Italien stark entgegenkam.

Ein Abkommen im Schatten britischer Diplomatie

Der Pariser Vertrag war in vielerlei Hinsicht ein Produkt der britischen Diplomatie. Großbritannien, das nach dem Krieg eine Schlüsselrolle in der europäischen Neuordnung spielte, nutzte das Abkommen, um die Minderheitenfrage in Südtirol auf eine Art zu lösen, die den politischen Druck minderte und gleichzeitig den Geheimvertrag von London 1915 aus dem Fokus nahm.

De Gasperi, dessen politische Wurzeln im altösterreichischen Welschtirol lagen, wurde von vielen Österreichern als Hoffnungsträger für eine faire Lösung der Südtirolfrage gesehen. Diese Einschätzung erwies sich jedoch als fatal. De Gasperi schickte lediglich seinen Unterhändler Nicolò Carandini nach Paris und vermied direkte Verhandlungen mit Gruber. Dies zeigt, wie gering der Stellenwert war, den Italien den Forderungen Österreichs und Südtirols tatsächlich beimaß.

Die enttäuschte Hoffnung der Südtiroler

Die Südtiroler Volkspartei, gegründet 1945, trat unmittelbar nach Kriegsende für das Selbstbestimmungsrecht der Südtiroler ein. Diese Forderung wurde jedoch auf der Londoner Außenministerkonferenz im September 1945 abgelehnt. In der Folge setzte sich Großbritannien dafür ein, Rom zu einer Autonomie für Südtirol zu bewegen. Diese Autonomie sollte jedoch auf die Region „Trentino-Alto Adige“ ausgedehnt werden, was die Südtiroler Rechte stark einschränkte.

Gruber, der im Glauben, dass eine Lösung ohne Zugeständnisse an Italien unmöglich sei, vorschnell Wirtschafts- und Gebietsangebote machte, schwächte die österreichische Verhandlungsposition erheblich. Er unterschätzte den Handlungsspielraum, den er tatsächlich gegenüber Italien hatte. De Gasperi, der eine Volksabstimmung in Südtirol fürchtete, drängte auf eine schnelle Einigung und nutzte die Situation zu Italiens Vorteil.

Keine „Magna Charta“, sondern eine bittere Enttäuschung

Der oft verwendete Begriff „Magna Charta für Südtirol“ ist eine grobe Übertreibung und verkennt die Realität. Das Pariser Abkommen verhinderte effektiv eine echte Autonomie für Südtirol. Es war lediglich ein Mittel zum Zweck, das den Südtirolern kaum Spielraum ließ und sie zwang, sich auf eigene Weise zu behaupten. Der Vertrag war in Wahrheit eher eine „Magna Charta“ für Trient, das von De Gasperi in ein attraktives Autonomiekonzept integriert wurde, während die Südtiroler Bevölkerung weitgehend ignoriert wurde.

Selbst wenn Österreich durch den Vertrag die Möglichkeit erhielt, die Wiedereinbürgerung der Südtiroler Optanten zu fördern, bot das Abkommen keinerlei substanzielle Unterstützung für eine echte Autonomie Südtirols. Auch die Behauptung, es handele sich um das „Maximum des Möglichen“, ist angesichts der berechtigten Ansprüche der Südtiroler schwer haltbar. Das Abkommen war in vielerlei Hinsicht ein „Minimum vom Minimum“.

Der lange Schatten des Pariser Vertrags

Die Folgen des Pariser Vertrags waren tiefgreifend und nachhaltig. Die mangelnde Berücksichtigung der Südtiroler Interessen führte zu jahrelanger Frustration und zu dem Gefühl, dass das Abkommen eine „Farce“ war, wie es der bekannte Südtiroler Journalist Claus Gatterer beschrieb. Die Spannungen und Konflikte, die in den 1950er- und 1960er-Jahren in Form von Anschlägen und Unruhen in Südtirol eskalierten, können als direkte Folge der unzureichenden Umsetzung des Gruber-De Gasperi-Abkommens gesehen werden.

Es dauerte Jahrzehnte, bis die Situation in Südtirol durch das Zweite Autonomiestatut von 1972 und die Streitbeilegung vor der UNO im Jahr 1992 stabilisiert werden konnte. Doch selbst nach all diesen Jahren bleibt die Enttäuschung in Südtirol tief verwurzelt. Der Pariser Vertrag wird heute weniger als Errungenschaft, sondern vielmehr als Symbol einer verpassten Chance gesehen.

Fazit: Eine verpasste Gelegenheit für eine faire Lösung

Rückblickend war der Pariser Vertrag von 1946 kein Dokument, das den Südtirolern die versprochene Autonomie brachte. Stattdessen diente es primär italienischen Interessen und war Ausdruck einer politisch schwierigen Zeit, in der Österreich nach dem Krieg geschwächt und Italien bestrebt war, seine territorialen Gewinne zu sichern. Eine echte „Magna Charta für Südtirol“ hätte anders ausgesehen – sie hätte den Südtirolern das Recht auf Selbstbestimmung eingeräumt und eine faire und ausgewogene Autonomie garantiert. Stattdessen bleibt der Pariser Vertrag ein Kapitel der Enttäuschung in der Geschichte Südtirols.

von Andreas Raffeiner

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  1. TomTom
    05.09.2024

    Kompatscher hat die Autonomie an den Galgen gebracht
    Ein Flop nach dem anderen

  2. Itstime
    05.09.2024

    Genau so schaut es aus. Kein Tag der Freude. In kleinen Schritten geht es wieder rückwärts.

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