Redaktion UT24

31.07.2017

Toponomastik – darum geht es

Eine Analyse aus historisch-wissenschaftlicher, politisch-ideologischer und moralischer Sicht.

Wo geht’s hier nach „Weißbichl“?

Von Cristian Kollmann

Toponomastik – ein Fremdwort, das in Südtirol, anders als im übrigen deutschen Sprachraum, sehr bekannt ist. Doch wie viele Südtiroler haben sich ernsthaft mit der Thematik auseinandergesetzt und wissen, um was es da genau geht?

Die Toponomastik – der Begriff bedeutet wörtlich „Orts- und Flurnamengebung“ – harrt in Südtirol bis heute einer Lösung und stand in den letzten Monaten erneut im Mittelpunkt der politischen Diskussion. Das Grundproblem dabei besteht darin, dass immer noch drei faschistische Ortsnamendekrete in Kraft sind, die die ausschließliche Amtlichkeit der so genannten italienischen Orts- und Flurnamen festlegt. Die Abschaffung dieser Ortsnamendekrete ist längst überfällig.

„Alto Adige“ – Nomen est omen

Hand aufs Herz: Wer hat schon einmal darüber nachgedacht, warum Südtirol im Italienischen eigentlich „Alto Adige“ heißt? Nomen est omen „der Name ist ein Zeichen“ – so lautet eine lateinische Redensart. Zeichen, wofür?

„Alto Adige“ stellt aus italienischer Sicht die Existenz Südtirols in Abrede und weist nach Süden. Hinter diesem Begriff steckt die Naturgrenztheorie der italienischen Irredentisten des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts: Der Alpenhauptkamm bilde die natürliche Grenze zwischen der romanischen und germanischen Welt. Der Hauptfluss auf der Südseite der Tiroler Alpen, die Etsch, fließt nach unten und mündet in die Adria. Die Grenze zwischen Italien und Österreich müsse daher an der Wasserscheide auf dem Alpenhauptkamm gezogen werden. Der südlich dieser Wasserscheide und im Einzugsgebiet der Etsch befindliche Teil Deutschtirols und Ladiniens wurde daher kurzerhand zum „Alto Adige“, also zum „Hochetsch“.

Der Mann, der das Konzept des „Alto Adige“ erfand, ist kein Unbekannter: Ettore Tolomei. Ettore Tolomei war ein aus Rovereto in Welschtirol stammender Nationalist und Faschist, der nur eines im Sinn hatte: Das „Alto Adige“ musste ein Teil Italiens werden! Um auf dieses Ziel hinzuarbeiten, gründete Tolomei im Jahr 1904 in Florenz das „Istituto di studi per l’Alto Adige“ und im Jahr 1906 die propagandistische Zeitschrift „Archivio per l’Alto Adige“. Die Titelseite dieser Zeitschrift schmückte ab dem Jahrgang 1908 eine Karte des zu annektierenden Teils Tirols. Auf dieser nimmt Tolomei die Brennergrenze bereits vorweg, und der Name „Tirol“ wird geleugnet: Es existiert nur das „Alto Adige“ und das „Trentino“. Selbst jenseits der Wasserscheide ist lediglich Innsbruck bzw. für das Tiroler Einzugsgebiet der Drau „Carinzia“ zu lesen!

Aber Tolomei beließ es nicht bei der Erfindung des „Alto Adige“. In seiner Zeitschrift publizierte er zahlreiche Artikel, die die romanische Identität Deutschsüdtirols beweisen sollten. Für die Beweisführung instrumentalisierte er die Orts- und Flurnamen. Er italianisierte diese, getreu seinem eigenen Motto „restituire, sostituire, creare“, also „zurückgeben, ersetzen, neu schaffen“. Dabei ging er wissenschaftlich äußerst dilettantisch vor. Tolomei bildete sich ein, dass im Grunde jeder deutsche Orts- oder Flurname lediglich die Überlagerung eines romanischen Namens darstellen würde. Ein alter romanischer Name sei rekonstruiert, indem an den deutschen Namen kurzerhand ein Vokal, meist o, anzuhängen sei. Aus „Terlan“ z.B. machte Tolomei „Terlano“ – nicht wissend, dass der Name wenn schon von romanisch „Torlano“ < lateinisch *Taurilānum ‚Gebiet des Taurilus‘ herstammt. In vielen Fällen, wo neben einem deutschen Namen ein ladinischer Name überliefert war, ersetzte Tolomei den deutschen durch den ladinischen und erklärte diesen kurzerhand für italienisch. Das ladinische (grödnerische) „Renon“ für „Ritten“ war also nunmehr italienisch, auch deshalb, weil Tolomei das Ladinische als italienischen Dialekt betrachtete. In wiederum anderen Fällen kreierte Tolomei einen italienisch klingenden Namen aus freien Stücken. Aus „Klobenstein“, dessen historische Bedeutung ‚gespaltener Stein‘ ist, machte Tolomei kurzerhand „Collalbo“, was rückübersetzt ‚Weißbichl‘ bedeutet.

Die „Prontuari“ und die faschistischen Ortsnamendekrete

Eine umfangreiche Liste mit insgesamt ca. 300 größtenteils ahistorischen und somit nur scheinbar italienischen Orts- und Flurnamen publizierte Tolomei erstmals im Jahr 1916 in der ersten Auflage seines „Prontuario dei nomi locali dell’Alto Adige“. Im Jahr 1918 folgte der „Repertorio dei nomi locali dell’Alto Adige“ von Ettore de Toni, dem Kopf der damaligen Reale Società Geografica Italiana. 1920 kamen Tolomeis und De Tonis Vorarbeiten wie gerufen: Das im Einzug der Etsch befindliche deutsche und ladinische Tirol und zusätzlich die im Einzugsgebiet der Drau befindlichen Gemeinden Sexten, Innichen, Innichberg, Vierschach und Winnebach wurden von Italien annektiert. Es folgte die Zeit des italienischen Faschismus, dessen Ziel darin bestand, die deutsche und ladinische Bevölkerung zu italianisieren. Im Visier der Italianisierung standen vor allem die über Jahrhunderte tradierten Orts- und Flurnamen.

Die Namenskreationen von Tolomei bildeten die Grundlage für das königliche Dekret Nr. 800 vom 29. März 1923, das die „amtliche Lesung der Namen der Gemeinden und der anderen Örtlichkeiten der annektierten Gebiete“ vorsah, und zwar in Durchführung der vom Großrat des Faschismus am 12. März 1923 beschlossenen „Maßnahmen für das Hochetsch zum Zwecke einer geordneten, schnellen und wirksamen Aktion zur Assimilierung und Italianisierung“. Die amtliche Lesung bezog sich ausschließlich auf die so genannten „italienischen“ Namen; die deutschen und ladinischen Namen wurden für amtlich ungültig erklärt. Die zweite Auflage von Tolomeis „Prontuario dei nomi locali dell’Alto Adige“ erschien im Jahr 1929 und beinhaltete nunmehr ca. 900, auch diesmal vorwiegend pseudoitalienische Namen. Die dritte und letzte Auflage erschien im Jahr 1935, und in dieser war die Anzahl von Tolomeis Namen auf über 8000 angestiegen. Dieses Handbuch bildete auch die Grundlage für das Ministerialdekret Nr. 147 vom 10. Juli 1940, mit dem zusätzlich die neueren Namen amtlich festgeschrieben wurden. Mit königlichem Dekret Nr. 6767 vom 9. März 1942 wurden schließlich insgesamt 2432 italienisch klingende Namen für die öffentlichen Gewässer der Provinz Bozen genehmigt. Viele dieser Namen sind nicht einmal in der Drittauflage des „Prontuario“ von Tolomei enthalten. Sie wurden somit erst im Nachhinein italianisiert.

Bericht der Vereinten Nationen

In diesem Zusammenhang sei an den Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1985 erinnert, laut dem derart aufgezwungene Namen einen „kulturellen Übergriff und Aggressionsakt“ darstellen! Demnach gilt es, fremde Elemente, die an traditionellen einheimischen Orts- und Personennamen angefügt wurden, zu entfernen.

Rückkehr zu autochthonen Namen liegt im Trend

Südtirol ist, trotz Pariser Vertrages und Autonomiestatuts, eine der letzten Regionen in Europa, in denen noch immer flächendeckend aufgezwungene Namen alleinige amtliche Gültigkeit besitzen. In anderen Regionen Europas, ja sogar in Italien selbst, ist man längst zur ursprünglichen Orts- und Flurnamengebung zurückgekehrt.

Im Aostatal wurden mit königlichem Dekret Nr. 1442 vom 22. Juli 1939 die bodenständigen französischen Orts- und Flurnamen – so wie in Südtirol – durch nur scheinbar italienische Konstruktionen ersetzt. Auch hierbei ging es darum, dem Aostatal einen italienischen Stempel aufzudrücken und Bezüge zur römischen Antike sowie zum Faschismus herzustellen. Eklatantes Beispiel ist die Gemeinde La Thuile, die 1939 in „Porta Littoria“ umbenannt wurde. Nach dem 2. Weltkrieg wurden im Aostatal die faschistischen Ortsnamen in mehreren Etappen abgeschafft und die historisch fundierten Namen wieder hergestellt. Seit 1987 ist dieser Prozess abgeschlossen. Außer der Hauptstadt Aoste/Aosta sind seit 1987 alle Namen wieder einsprachig französisch.

Seit dem 18. Jahrhundert dominiert in Spanien das Kastilische, während das Katalanische, Baskische und Galizische zurückgedrängt wurden. Dasselbe galt für die Toponomastik. In Katalonien wurden 1983, somit nach mehr als 250 Jahren, die autochthonen, historisch fundierten katalanischen Orts- und Flurnamen restituiert. Im galizischen, baskischen und katalanischen Raum finden sich heute nur noch die authentischen galizischen, baskischen und katalanischen Orts- und Flurnamen.

Estland wurde 1940 von der Sowjetunion annektiert und stark russifiziert. Der Anteil der Esten an der Bevölkerung betrug 1940 noch 92 %, 1989 nur noch 61 %. Die Orts- und Flurnamen waren ebenso russifiziert worden. 1989 wurde das Estnische wieder Staatssprache. Die Toponomastik wurde gesetzlich geregelt: „Die Ortsnamen der Estnischen Republik werden nur in estnischer Sprache geführt. Zugelassen sind nur jene Ausnahmen, die durch geschichtliche und geschichtlich-kulturelle Gründe bedingt sind. Jede Örtlichkeit in der estnischen Republik hat nur eine offizielle Benennung.“

Die Rückkehr zu den ursprünglichen Namen liegt im Trend. Dies zeigt auch ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte: Denali, der höchste Berg in Nordamerika, wurde 1917 in „Mount McKinley“ umbenannt. Erst im Jahr 2015 hat der Berg, in Anerkennung der Traditionen der Ureinwohner Alaskas, seinen autochthonen Namen, der in der Sprache der Ureinwohner „der Große“ bedeutet, zurückbekommen. Zum Vergleich: Der Klockerkarkopf im Ahrntal heißt bis heute ausschließlich „Vetta d’Italia“!

Namen sind identitätsstiftend und kollektives kulturelles Erbe

Wie die Namen Nordamerikas und von vielen anderen Regionen weisen auch jene des Tiroler Raums vielfach ein hohes Alter auf. Nicht selten reicht deren Ursprung in vorrömische Zeit zurück. Vorrömisch-indogermanische (z.B. keltische) und vorrömisch-nichtindogermanische (z.B. rätische) Namen wurden an die Romanen und von diesen an die Germanen tradiert, und Romanen und Germanen bildeten gleichzeitig neue Namen, die größtenteils ebenfalls bis zum heutigen Tag überliefert sind. Historisch fundierte Orts- und Flurnamen sind wichtige Zeugen der Siedlungs- und Sprachgeschichte, sie sind identitätsstiftend für die Gemeinschaft, kollektives Erbe und unterstreichen die Authentizität eines Gebiets.

Tolomei wusste genau, worauf es ankommt

Ettore Tolomei, der Erfinder des „Alto Adige“, wusste um diese wichtige Funktion von geografischen Namen bestens Bescheid, und daher wusste er auch, wo es galt anzusetzen. Eine flächendeckende – nur zum Schein – italienische Ortsnamengebung sollte den Eindruck vermitteln, als sei dieses Gebiet kontinuierlich seit der Römerzeit von Romanen und deren direkten Nachfahren, den Italienern besiedelt.

Die historischen und wissenschaftlichen Fakten

Fakt ist: Eine flächendeckende Italianität des Gebiets des heutigen Südtirols hat es nie gegeben, wenngleich Tirol immer schon ein mehrsprachiges Land war. Das Gebiet des heutigen Südtirols ist seit Jahrhunderten mehrheitlich deutsch besiedelt, an zweiter Stelle folgten die Ladiner. Der Anteil der Italiener lag vor der Zeit des Faschismus bei unter 3 Prozent! Aus der Sicht der Gegenwart betrachtet, lässt sich die historisch fundierte Toponomastik im heutigen Südtirol mehrheitlich dem Deutschen zuordnen. Den zweitgrößten Anteil haben die ladinischen Namen. Die drittgrößte Gruppe bilden die italienischen Namen. Sie finden sich a) im Umkreis jener Gebiete, in denen bereits vor der Annexion Südtirols durch Italien ein größerer Anteil an Italienern lebte; b) an der Grenze zum italienischen Sprachraum (umgekehrt finden sich auch deutsche Namen im italienischen Sprachgebiet an der Grenze zum deutschen Sprachraum); c) für größere Orte und Fluren, deren Namen im italienischen Sprachraum seit je einen hohen Verkehrswert hatten. Insgesamt sind für Orte und Fluren im Gebiet des heutigen Südtirols ca. 200 echte italienische Namen überliefert, darunter 55 Gemeindenamen.

Toponomastik: Politisch oder wissenschaftlich argumentieren?

Die Toponomastik fällt ausschließlich in die Zuständigkeit der Provinz Bozen (Südtirol), allerdings mit der Verpflichtung zur Zweisprachigkeit. Das Problem: Das offizielle Südtirol meidet bis heute einen faschistisch unbelasteten und wissenschaftlich fundierten Diskurs in der Toponomastikfrage und will somit nicht klar darlegen, was Zweisprachigkeit in der Orts- und Flurnamengebung aus wissenschaftlicher Sicht bedeutet. Nach wissenschaftlichen Kriterien gilt es zu unterscheiden zwischen Zweisprachigkeit von Namen, die bezeichnen, und Zweisprachigkeit von Wörtern, die bedeuten. Erstere sind grundsätzlich nicht übersetzbar. Ebenso muss differenziert werden zwischen historisch fundierten (deutschen, ladinischen, italienischen) Namen und historisch nicht fundierten (konstruierten, rekonstruierten, tolomeisch-faschistischen, pseudoitalienischen, artifiziellen, aufgesetzten) Begriffen. Statt sich sich wissenschaftlicher Argumente zu bedienen, bemüht man einen ausschließlich politischen und ideologischen Diskurs. Man verlagert das Problem außerhalb des Landtages, obwohl dieser dafür zuständig wäre, indem man es der Sechserkommission anvertraut. Diese hat den Auftrag, eine Durchführungsbestimmung zur Toponomastik auszuarbeiten, die dann die Grundlage für ein Landesgesetz zur Toponomastik bilden soll. Die Sechserkommission soll dabei nicht wissenschaftlich, sondern rein technisch vorgehen, indem sie all jene Orts- und Flurnamen amtlich feststellt, die effektiv in Gebrauch sind. Im Klartext bedeutet dies: All jene Kulturverbrechen, die seit Generationen tagtäglich begangen werden und daher „effektiv in Gebrauch“ sind, sollen auf Landesebene abgesegnet werden! Nur über die nicht oder kaum gebräuchlichen Orts- und Flurnamen, also de facto über die gewissermaßen „kleineren“ Kulturverbrechen, könnte man verhandeln! Man ist also mehr denn je dazu geneigt, erfundene, pseudoitalienische, historisch nicht fundierte und manipulative Orts- und Flurnamen mit den über Jahrhunderte tradierten, authentischen und bodenständigen (deutschen, ladinischen, und echt italienischen) Namen gleichzusetzen und sie als Kulturgut aufzuwerten.

Die Wissenschaft im Dienste einer italienisch-nationalistischen Politik

Jüngst hat sich auch die italienische akademische Welt rund um das von Tolomei gegründete „Istituto di studi per l’Alto Adige“ in die Toponomastikdiskussion eingeschaltet: Sie verteidigt, mit wenigen redlichen Ausnahmen, bis heute die tolomeisch-faschistische und pseudoitalienische Orts- und Flurnamengebung unter dem Deckmantel der Wissenschaft und verfolgt damit nur italienisch-nationalistische Interessen. Politiker wie Wissenschaftler sind mehr denn je dazu geneigt, faschistische Kulturverbrechen als entfaschistisiertes Kulturgut, als Bereicherung und friedenserhaltende Maßnahme zu reinterpretieren.

Ein ins Positive verdrehter Faschismus als Grundlage für ein friedliches Zusammenleben?

Was jedoch diese Politiker und „Wissenschaftler“ dabei übersehen: Das Festhalten an der faschistischen und pseudoitalienischen Orts- und Flurnamengebung hindert die Italiener daran, in Südtirol anzukommen und fördert deren Verharren im „Alto Adige“ sowie den Fortbestand von ethnischen Mauern. Ebenso ist es hinderlich für ein friedliches, ehrliches und faschistisch unbelastetes Zusammenleben der Volksgruppen in Südtirol, da hierfür ein ins Positive verdrehter Faschismus niemals die Grundlage bilden kann.


Hinweis der Redaktion: Die Bewegung Süd-Tiroler Freiheit hat eine Petition zur Abschaffung der faschistischen Ortsnamendekrete gestartet. Hier kann diese unterzeichnet werden.


 

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