von apa 15.05.2017 16:48 Uhr

Merkel und Macron geben Gas bei EU-Reform

Nach dem Regierungswechsel in Frankreich kommt Bewegung in die Debatte über eine tiefgreifende EU-Reform. Beim Antrittsbesuch des neuen Präsidenten Emmanuel Macron in Berlin hat die deutsche Kanzlerin Angela Merkel am Montagabend ihre bisherige Zurückhaltung in der Frage einer Reform der EU-Verträge fallengelassen. Merkel und Macron kündigten einen gemeinsamen Reformfahrplan (“Roadmap”) an.

APA (AFP)

“Wir können dem Ganzen eine neue Dynamik geben”, sagte Merkel bei einer gemeinsamen Pressekonferenz beim Antrittsbesuch Macrons in Berlin. Dazu müsse man auch bereit sein, Verträge zu ändern. “Wenn wir sagen können, warum, wozu, was die Sinnhaftigkeit ist, wird Deutschland jedenfalls dazu bereit sein”, sagte Merkel. “Die ganze Welt ändert sich”, fügte sie hinzu. Auch Macron betonte: “Für uns gibt es hier keinerlei Tabu.”

“Es gibt eine gemeinsame Überzeugung, dass wir uns jetzt nicht nur mit dem Austritt Großbritanniens befassen, sondern dass wir vor allen Dingen auch überlegen müssen, wie können wir die Europäische Union und vorrangig auch die Eurozone vertiefen und krisenfester machen”, sagte Merkel.

Im Juli wollen die deutsche und französische Regierung in einer gemeinsamen Sitzung über Reformen für die EU und die Eurozone beraten. Dabei sollten bilaterale Projekte vorgestellt werden, “die unserer Zusammenarbeit einen neuen Push geben können”, sagte Merkel. Der 39-jährige Macron hatte im Wahlkampf eine klar pro-europäische Linie gegen die rechtspopulistische EU-Gegnerin Marine Le Pen vertreten. Unter anderem sprach er sich für einen EU-Finanzminister sowie ein Budget der Eurozone aus.

Unmittelbar vor seinem Kurzbesuch in Berlin ernannte er den Konservativen Edouard Philippe (46) zum neuen Premierminister. Philippe war bisher Abgeordneter und Bürgermeister der Hafenstadt Le Havre und gehört zum moderaten Flügel der konservativen Republikaner-Partei um Ex-Premier Alain Juppe.

In Berlin kündigte Macron “tiefgreifende Reformen” in seinem Land an. Frankreich sei es in den vergangenen 30 Jahren nicht gelungen, das Problem der Massenarbeitslosigkeit zu lösen. “Die Regierung wird sich diesem Ziel verschreiben”, versprach Macron, der an diesem Dienstag die Minister seines Kabinetts benennen will. Ebenso wie Merkel forderte er den Abbau bürokratischer Hemmnisse in der EU.

Eine Vergemeinschaftung alter Schulden in der Eurozone lehnte der neue Präsident ab. “Das führt zu einer Politik der Verantwortungslosigkeit”, sagte er. “Ich habe nie Eurobonds gefordert.” Macron plädierte in Berlin allerdings für eine neue Investitionsoffensive in der Eurozone. “Wir müssen frisches Geld einbringen”, forderte Macron.

Der französische Staatschef erklärte, Deutschland und Frankreich seien an einem “historischen Moment” angekommen. Angesichts des Vormarschs der Populisten in Europa müssten beide Länder noch stärker zusammenarbeiten. “Unser Verhältnis braucht noch mehr Vertrauen und konkrete Ergebnisse.” Er versprach Merkel: “Ich werde ein offener, direkter und konstruktiver Partner sein.”

Macron will eine umstrittene Reform beim Deutschunterricht zurücknehmen. Zweisprachenklassen solle es ab dem nächsten Schuljahr wieder in Frankreich geben, verlautete aus der Umgebung Macrons am Montag. Unter seinem Amtsvorgänger Francois Hollande war der Lehrplan der Mittelstufe auf Betreiben von Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem umgebaut worden. Dies bedeutete die Abschaffung der sogenannten Zweisprachenklassen, in denen Schüler schon von Beginn der Sekundarstufe an neben Englisch auch Deutsch lernen konnten.

Berlin hatte vor zwei Jahren die Reform ungewöhnlich deutlich kritisiert. Die beiden Länder hatten sich 1963 im Elysee-Vertrag dazu verpflichtet, die Sprache des jeweiligen Partners zu fördern.

Merkel und Macron haben sich dafür ausgesprochen, dass sich die EU entschiedener als bisher gegen unfaire Handelspraktiken wehrt. Macron sagte bei seinem Antrittsbesuch in Berlin, er sei für Freihandel, aber die EU dürfe auch nicht naiv sein. Es gelte die Bürger besser gegen unfaire Handelspraktiken zu schützen. Deshalb dringe er auf eine Reziprozität in den Handelsbeziehungen. Diese Gegenseitigkeit würde bedeuten, dass die EU Drittstaaten nur die Rechte gewährt, die diese auch gewähren.

“Ich wünsche mir, dass wir ein Europa haben, das seine Bürger besser schützt, und dass wir weniger naiv sind”, sagte Macron. Ansonsten könne man EU-Arbeitnehmern nicht erklären, warum sie ihre Jobs nicht wegen fehlender Wettbewerbsfähigkeit, sondern des Dumping-Verhaltens anderer Länder verlören. Macron betonte, er sei deshalb aber nicht gegen Freihandel.

Merkel unterstützte seine Position. “Dieses Element der Reziprozität kann ich mir sehr gut vorstellen”, sagte die christdemokratische deutsche Regierungschefin. Die deutsche Bundesregierung habe zudem die EU-Kommission gebeten, bessere Schutzmöglichkeiten für strategische Industrien zu prüfen

Am Montagnachmittag war Macron vor dem Kanzleramt mit militärischen Ehren empfangen worden. Merkel begrüßte den Gast aus Paris mit einem herzlichen Händedruck, es gab keinen Wangenkuss.

Macron will das traditionelle Rechts-Links-Schema in Frankreich durchbrechen und strebt eine Regierung mit Vertretern verschiedener politischer Lager an. Im Rennen um den Präsidentenposten waren Sozialisten und bürgerliche Rechte schon im ersten Wahlgang ausgeschieden. Macron hatte am Sonntag die Macht als jüngster Präsident aller Zeiten übernommen. Die übrigen Regierungsmitglieder sollen am Dienstag ernannt werden.

Der Präsident muss bei der Wahl zur Nationalversammlung am 11. und 18. Juni eine Mehrheit erringen, um seine Reformagenda umsetzen zu können. Gelingt dies nicht, würde das Macrons Handlungsspielraum stark einschränken. Seine Bewegung “En Marche!” ist bisher nicht in der Nationalversammlung vertreten.

Der Besuch in Berlin war Macrons erste Auslandsreise als Präsident. Der 39-Jährige war am Vortag offiziell ins höchste Staatsamt eingeführt worden.

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