Rupert Gietl

01.10.2016

Verfassungsreform: Absichtlich unverständlich?

Der vorgeschlagene Text der italienischen Verfassungsreform ist für Laien schwer bis gar nicht verständlich. Steckt Absicht dahinter?

Die italienische Verfassung von 1947.

Die Italiener bezeichnen ihre Verfassung gerne als die schönste der Welt.

Über Geschmack kann man bekanntlich streiten, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass deren Väter bei der Niederschrift im Jahre 1947 ein sehr wichtiges Anliegen verfolgten:

Das Grundgesetz sollte für so viele Bürger wie möglich verständlich und lesbar sein. Aus diesem Grunde legten vor der Veröffentlichung der endgültigen Version noch einmal mehrere Schriftsteller und Sprachwissenschaftler Hand an den Text, kürzten die Sätze auf einen Durchschnitt von nur 20 Wörtern und sorgten dafür, dass – laut dem Linguisten Tullio De Mauro – 93% der verwendeten Vokabeln bereits von Grundschülern verstanden werden konnten.

Das ist freilich lange her. Gesetze werden in Italien schon seit langem so gemacht, dass sie möglichst unverständlich sind und dadurch enormen Spielraum bei deren Interpretation ermöglichen.

Dies ging so weit, dass der ehemalige Präsident des Verfassungsgerichtshofes Gustavo Zagrebelsky, im Jahr 2011 vorschlug, alle unverständlichen und unvollständigen Gesetze zukünftig für verfassungswidrig zu erklären.

Mit der geplanten Verfassungsreform geht es nun möglicherweise der Lesbarkeit der Verfassung an den Kragen: Die geplanten Änderungen umfassen 323, 438 und 439 Wörter, beinahe soviel, wie der gesamte Text bisher hatte (nämlich 1.357).

Zum Artikel 70, der im italienischen Original bisher nur neun Wörter umfasste ( “La funzione legislativa è esercitata collettivamente dalle due Camere”) soll nach dem Wunsch von Ministerin Boschi auf 430 Wörter aufgebläht werden. Der längste Satz besteht aus 173 Worten.

Laut Zagrebelsky ist der vorgeschlagene neue Verfassungstext sehr schlecht geschrieben, teilweise widersprüchlich und unverständlich.

Um ihn zu interpretieren brauche es Juristen, die mehr an Hexer und antike Priester erinnern, als an Diener des Rechts und damit ihre Stellung als Kaste zu festigen suchen, wie es der ehemalige Jurist, Schriftsteller und Senator Gianrico Carofiglio ausdrückte.

Im südlichen Tirol kann man da nur mit Kopfschütteln nach Rom blicken. Die ganze Diskussion fühlt sich an, als fände sie weit weg von uns statt, in einem fremden Land, das uns nichts angeht.

Dem ist freilich nicht so.

Umso mehr jedoch über die geplanten Veränderungen an der schönsten Verfassung der Welt diskutiert wird, umso mehr scheint Skepsis angebracht zu sein.


Zur vertiefenden Lektüre:

La legge oscura (Aktikel der italienischen Tageszeitung Il Fatto Quotidiano)


 

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  1. dege
    02.10.2016

    “gru” legt den Finger in die Wunde. In der Tat ist die Wortfülle im neuen Verfassungsvorschlag von Renzi und Co. kennzeichnend für diese wendige Show-Truppe: Allenthalben Unklarheiten, Hintertürchen, Ungenauigkeiten. Am besten zeigt es der 9-zu-430-Wörter-Satz. Man muss nix von Verfassungsrecht verstehen, um zu begreifen, dass hier jemand andere ums Haxl hauen will. Nachdem sie nicht blöd sind, stellen wir uns mit “gru” zurecht die Frage: Warum tun die das so? Teile einer Antwort finden sich im heutigen Presseklick, bzw. im Beitrag der NZZ zu Obamas Politik in Syrien. Dort schreibt Peter Winkler von Obamas Konzept “der sogenannten «soft power», also jener Instrumente eines Staats, die unterhalb der Schwelle direkter militärischer Gewalt operieren”. Im nämlichen Sinne könnte man sagen, dass Renzi in Rom versucht, unterhalb der Schwelle der direkten Wahrnehmung, also mit “soft power”, eine Verfassung zu erschwindeln, die ihm am Ende “hard power” bringt. Wir erinnern uns: Renzi ist ein Parteiputschist, er wurde nie vom Volk gewählt. Mit Verfassungsänderung und Italicum glauben er und seine Genossinnen, das Ticket von der Demokratie zur Autokratie lösen zu können. Wie es auch kommen mag, ich glaube, dass nicht nur wir deutschen, ladinischen und italienischen Tiroler südlich des Brenners, sondern immer mehr Italiener südlich der Berner Klause den Eindruck gewinnen, von einem fremden Staat und unsichtbaren Mächten in Ketten gelegt zu werden.

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